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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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gehört“, beharrte Wenamun.
    „Hier ist niemand außer uns und dem Toten. Los jetzt, mach mal voran mit den Kisten!“
    Langsam rappelte Ranofer sich auf. Niemand hier? Und das Gesicht, das er gesehen hatte? Er spähte noch einmal bebend durch das Loch – wieder blickte er in das Augenpaar! Er wich unweigerlich einen Schritt zurück, aber dieses Mal merkte er, dass sich die Augen nicht bewegten. Sie gehörten keinem lebenden Wesen, sondern es waren die Augen einer lebensgroßen Holzstatue, eine Einlegearbeit aus Glas. Er sah auch, dass die Augen teilweise zerbrochen waren, als ob sie jemand mit dem Griff eines Dolches ausstechen wollte. Gebu und Wenamun wollten sich wohl unbeobachtet fühlen, während sie ihr Verbrechen begingen, und konnten den wachsamen Blick des Uschebti, der dem Toten als Diener und Wächter mit ins Grab gegeben worden war, nicht aushalten.
    Zitternd nahm Ranofer die Figur in Augenschein. Seine Angst vor der Rache dieser Figur wich aber schnell unerwartetem Mitleid. Es war die Statue einer schlanken, schönen Dienerin, die ein weiß aufgemaltes Kleid und eine golden gemalte Halskette trug; mit einer Hand stützte sie eine Kiste auf der Schulter, in der anderen hielt sie eine bemalte Holzente an den Füßen. Ihr Gesicht strahlte Heiterkeit und Freude aus – der Bildner, der sie geschaffen hatte, musste ein großer Meister gewesen sein. Ihr einst klarer Blick war nun umwölkt, ihre großen Augen blind von den Schlägen, die sie zersplittert hatten. Ihre Schönheit war verschandelt, ihre Nützlichkeit als Wächterin dahin. Als ob ein unschuldiges, glückliches Geschöpf dahingemordet wurde – ein Opfer von Gebus erbarmungsloser Gier.
    Ranofer wandte seinen Blick von der anmutigen Statue ab und ließ ihn durch den Raum wandern, der von der Fackel in der nächsten Kammer schwach erleuchtet war. Ein merkwürdiges Gefühl bemächtigte sich des Jungen, als er mit großen Augen die anderen Gegenstände betrachtete. Der Raum war mit Haushaltsgeräten und Möbel eingerichtet wie eine Wohnung. Da waren Sessel und Betten aus geschnitztem, vergoldetem Holz, bemalte Schränke mit fein gedrechselten Elfenbeinfüßen und eine Truhe aus Flechtwerk mit schmalen Lüftungsschlitzen, durch die der Duft parfümierter Kleider drang und den Raum mit Wohlgeruch erfüllte. Weinkelche standen auf Regalen, es gab Honigtöpfe aus Alabaster, Salbgefäße, edelsteinbesetzte Halskragen und Armbänder. Alles funkelte golden.
    Er konnte seinen Blick kaum abwenden. Aber nicht das Gold zog Ranofer in seinen Bann und lockte ihn durch das zackige Loch in die Kammer – es waren die Blumengebinde, die noch so frisch waren, als hätte sie jemand aus liebender Trauer erst kürzlich hier niedergelegt, es war auch der Anblick eines Eichenstocks, der an der Wand lehnte, von zwei Paar Sandalen, einem neuen und einem alten, und des Opfermahls, Stücke des Lieblingsbratens, die schön in Kästchen angerichtet waren wie Reiseproviant. Da stand er nun still und ehrfürchtig in einem Haus der Ewigkeit. Was auch immer er erwartet hatte – dass es darin aussehen könnte wie in einem normalen Haus, wie in einem bewohnten, ordentlichen Zimmer, in das sein Bewohner jeden Augenblick zurückkehren könnte, das hätte er nicht gedacht. Die Furcht erregenden Dämonen, die den Gang bevölkerten, waren jedenfalls nicht hier in dieser friedlichen Kammer.
    Wer war der Besitzer dieses Grabes? Ranofer ließ seinen Blick suchend schweifen, da stellte er überrascht fest, dass hier zwei Verstorbene wohnten. Langsam und leise ging er durch die Kammer zu den beiden Sarkophagen, die mit Einlegearbeiten aus Silber geschmückt waren. Die Deckel trugen die goldgetriebenen Bildnisse ihrer Besitzer, eines Mannes und einer Frau. Sie lagen nebeneinander wie im Schlaf, die gefalteten Hände zeugten vom selben blinden Vertrauen wie die Tatsache, dass sie als einzige Wache über ihre Ruhe nur ein liebes, harmloses Mädchen hatten aufstellen lassen. Ranofer betrachtete ihre friedlichen goldenen Gesichter – da drangen die gedämpften Geräusche der Plünderer in der nächsten Kammer so deutlich an sein Ohr, dass er sich zum ersten Mal des ganzen Ausmaßes dieses Verbrechens bewusst wurde.
    Er reckte sich – seine Angst war schäumender Wut gewichen. Diese erbärmlichen Schurken wagten es, in diesen heiligen Ort einzudringen und die Schätze zu stehlen, die diesem alten Paar im Paradies Bequemlichkeit und Wohlleben schenken sollten! Ob es sich nun um kostbares Gold

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