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Der goldene Kelch

Der goldene Kelch

Titel: Der goldene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eloise Jarvis McGraw
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das weiß ich. Aber Djau ist vielleicht zu Hause – er ist ein alter Mann, vielleicht war es ihm zu anstrengend, über den Fluss zu setzen.“
    „Ich werd’s versuchen, mehr kann ich nicht tun. Lebt wohl und möge Osiris mit euch sein!“
    „Möge Osiris auch mit dir sein!“, rief ihm der Alte noch nach.
    Ich hätte sie nicht mit diesen Teufeln alleine lassen sollen, dachte Ranofer, als er auf müden Beinen durch den Sand stolperte und den Pfad hinaufeilte. An der ersten Biegung warf er einen Blick über die Schulter: Die beiden Gestalten eilten direkt auf den Felshaufen zu. Was ist, wenn Gebu den Stein schon entfernt hat? Was ist, wenn sie plötzlich Gebu und diesem dämonischen Wenamun gegenüberstehen, die aus dem Schacht geklettert sind? Das würden sie nicht überleben – nicht ein alter Mann und ein Junge, die keine Erfahrung darin haben, Gebus Schlägen auszuweichen!
    Du musst zurück!, schrie eine innere Stimme. Nein, geh weiter!, schrie eine andere.
    Er ging weiter. Er versuchte zu verdrängen, in welche Gefahr er seine besten und einzigen Freunde gebracht hatte. Das Seitenstechen war kaum auszuhalten, seine Lungen platzten fast.
    Vorbei am Platz mit dem krummen Baum, vorbei am Felsvorsprung, der ihm das Leben gerettet hatte, erreichte er den Grat und rannte den engen Pfad hinunter, den er zuvor voller Angst hinaufgekrochen war. Es waren seitdem nur wenige Stunden vergangen, sie kamen ihm aber vor wie Jahre. Und er, Ranofer, war nicht mehr der Junge, der im Morgengrauen diesen Weg angetreten hatte.
    Damals war Ranofer noch ein Kind gewesen, ein ahnungsloser, verängstigter Dummkopf, der dachte, er sei in Schwierigkeiten. Was wirkliche Schwierigkeiten sind, das hatte er am Morgen noch nicht ermessen können. In solche Gedanken versunken kam Ranofer schließlich am Wüstenstreifen am Fuß der Berge an. Er blieb stehen, lehnte sich gegen den Fels und schnappte nach Luft. Vor ihm lag Ägypten, das grüne, vertraute Land, hinter den Häusern der Totenstadt glitzerte der Nil. Djau ist bestimmt nicht zu Hause, dachte er und verlor fast alle Hoffnung. Er feiert bestimmt mit den anderen. Wenn doch wenigstens ein Boot am Kai liegen würde… mit Rudern… dann könnte ich übersetzen… – Blödsinn! Wie soll ich alleine ein Boot über den Nil rudern, jetzt, wo die Wasser hoch und schnell sind? Und selbst wenn ich es könnte, wie sollte ich Djau in der Menge finden? Ganz Theben ist auf dem Ostufer, und alle sind bestimmt schon angetrunken! Ich muss zu ihm gehen, ich muss nachsehen, ob er nicht doch zu Hause ist. Er überquerte den Wüstenstreifen, rannte und rannte, bis das Seitenstechen ihm wieder den Atem raubte, ging langsam, bis der Schmerz nachließ, und rannte weiter. Am Stadtrand bog er in die erste Straße nach Süden ein, lief hinunter zu den vornehmen Villen und Gärten beim Palast und ging dann nach Osten Richtung Fluss, bis er die Straße zum Glücklichen Zufall fand. Ein paar Minuten später zerrte er an Djaus Tor. Das Tor war verriegelt. Er rüttelte und trat, er hämmerte mit den Fäusten und warf sich dagegen. Schließlich gab er auf. Kraftlos ließ er die Arme sinken und starrte mit Tränen in den Augen auf das Zeichen des Goldhauses, das ins Gitter eingearbeitet war, und die Rebe, die sich darüber rankte.
    Ziellos trottete er die menschenleere Straße hinunter. Er hatte seine Freunde in Todesgefahr gebracht, war weggelaufen und hatte sie allein gelassen – eine tolle Leistung! Hier war niemand, dem er seine Geschichte erzählen konnte, der ihm zuhören und ihm glauben würde. Die Häuser waren so verlassen wie die Straße, die ganze Stadt war ausgestorben.
    Sein Blick wanderte betrübt über die blinden und tauben Mauern, die verschlossenen Tore und die stummen Bäume zum Palast, der am Ende der Straße strahlte. Ranofer blieb stehen wie angenagelt: Das war’s – der Palast! Der Palast würde nicht verlassen sein. Die königliche Prozession würde erst am Mittag, am Höhepunkt des Fests, ans Ostufer zum Amuntempel übersetzen. Er fing an zu laufen – aber er wusste, es war hoffnungslos, ja, mehr als hoffnungslos. Wie sollte er denn in den Palast kommen? Die Wachen würden ihn niemals passieren lassen, und er würde nie sagen dürfen, was er wusste. Er würde sterben, entweder am Hohen Tor oder später, wenn Gebu aus dem Schacht entwischt war und ihn finden würde.
    Aber er ging weiter. Die Erinnerung an die friedvolle Kammer unter der Erde, die nun zerstört und geplündert war, und an

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