Der Goldene Kompass
Sumpffeuer flackerten und Wegelagerer arglose Reisende auf verhängnisvolle Irrwege in Sümpfe und Schlammlöcher lockten, hatten die Gypter sich stets ungestört versammeln können.
Durch tausend gewundene Kanäle, Bäche und Wasserläufe strebten gyptische Boote den Byanplats zu, dem einzigen etwas höher gelegenen Landstück in der Hunderte von Quadratmeilen großen Sumpf- und Moorlandschaft. Inmitten von Anlegestellen, Hafendämmen, einem Aalmarkt und einer kleinen Siedlung stand dort eine uralte Versammlungshalle aus Holz. Wenn dort ein Thing, eine Versammlung der Gypter, einberufen wurde, drängten sich so viele Boote auf den Wasserstraßen, daß man — so sagte man — über ihre Decks in alle Richtungen eine Meile laufen konnte. In den Sümpfen herrschten die Gypter. Niemand sonst wagte es, sie zu betreten, und solange die Gypter sich friedlich verhielten und die öffentliche Ruhe nicht störten, drückten die Landloper, die Bewohner des Festlandes, bei dem regen Schmuggel und den gelegentlichen Fehden ein Auge zu. Wenn die Leiche eines Gypters an die Küste gespült wurde oder einem Fischer ins Netz ging, na ja — dann war es eben nur ein Gypter.
Lyra lauschte gespannt den Geschichten der Fenbewohner vom großen Geisterhund Black oder den Sumpffeuern, die aufloderten, wenn Hexenöl in Blasen an die Oberfläche stieg, und noch ehe sie die Fens erreichten, fühlte sie sich als Gypterin. Sie war schnell wieder in die Ausdrucksweise ihrer Oxforder Zeit verfallen und bereicherte ihre Sprache jetzt auch noch mit holländischen Worten der gyptischen Fenbewohner. Ma Costa mußte sie an gewisse Dinge erinnern.
»Du bist keine Gypterin, Lyra. Vielleicht sprichst du mit einiger Übung wie wir, aber die Sprache allein macht dich noch lange nicht zu einer Gypterin. In uns gibt es Tiefen und starke Strömungen. Wir sind Wassermenschen durch und durch und du nicht, du bist ein Feuermensch. Du gleichst am meisten dem Sumpffeuer, jedenfalls aus der Perspektive der Gypter; du hast Hexenöl in der Seele. Du führst in die Irre, Kind.«
Lyra war gekränkt.
»Ich habe noch nie jemanden in die Irre geführt! Frag doch…«
Aber natürlich gab es niemanden, den man hätte fragen können, und Ma Costa lachte, doch es war ein freundliches Lachen.
»Merkst du nicht, daß ich dir ein Kompliment mache, du Gänschen?« fragte sie, und Lyra war besänftigt, auch wenn sie nichts verstand.
Als sie die Byanplats erreichten, war es Abend, und die Sonne stand rief am blutroten Himmel. Die flache Insel mit dem Zaal inmitten eines Gewirrs von Häusern hob sich als schwarze Masse gegen das Licht ab; Rauchfäden stiegen in die windstille Luft empor, und aus dem Gedränge der Boote ringsum wehte der Geruch von gebratenem Fisch, Tabak und Genever herüber.
Sie vertäuten das Boot an einem Liegeplatz in der Nähe des Zaal, der laut Tony schon seit Generationen von ihrer Familie benutzt wurde. Bald daraufzischten und bruzelten fette Aale in Ma Costas Bratpfanne und im Kessel sprudelte Wasser für Kartoffelpürree. Tony und Kerim ölten sich das Haar ein, zogen ihre schönsten Lederjacken und blau getupfte Halstücher an, schmückten die Finger mit zahlreichen Silberringen und machten sich dann auf, um alte Freunde auf den Nachbarbooten zu begrüßen und in der nächsten Bar etwas zu trinken. Sie kehrten mit wichtigen Neuigkeiten zurück.
»Wir sind gerade rechtzeitig angekommen. Das Thing findet schon heute abend statt. Und wißt ihr, was sie in der Stadt sagen? Es heißt, das vermißte Mädchen befinde sich auf einem gyptischen Boot und würde heute abend beim Thing erscheinen.«
Tony lachte laut und zauste Lyras Haar. Seit sie die Sümpfe erreicht hatten, besserte sich seine Laune zusehends, als sei die grimmige Schwermut, die seine Miene nach außen zeigte, nur eine Maske. Und Lyra wurde immer aufgeregter. Sie schlang das Essen hinunter, wusch das Geschirr ab, kämmte sich die Haare und steckte das Alethiometer in die Tasche des Wolfspelzmantels. Dann sprang sie an Land und folgte den anderen Familien die Anhöhe zum Zaal hinauf.
Sie hatte geglaubt, Tony mache einen Scherz, stellte aber bald fest, daß dem nicht so war oder daß sie vielleicht doch weniger einer Gypterin glich, als sie geglaubt hatte. Zahlreiche Menschen starrten sie an, und Kinder zeigten auf sie. Als sie die großen Türen des Zaal erreichten, wich die Menge auf beiden Seiten zurück, um ihnen Platz zu machen, und sie schritten durch ein Spalier von
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