Der goldene Kuß
rannte er zu ihr und sah, daß sie die Hände auf eine Stelle an ihrer linken Wade preßte.
»Eine Schlange!« schrie Karin Jarut in höchster Angst. »Eine Schlange hat mich gebissen!«
Der Junge stand einen Augenblick starr. Dann nahm er einen großen Stein vom Boden auf und rannte zu der Stelle, wo die weiße Frau angefallen worden war. Aber er kam zu spät. Die Schlange hatte sich zwischen Geröll und Büschen davongemacht. Es war nicht mehr festzustellen, ob es eine giftige Flußviper oder eine harmlose Schlange gewesen war, die von Karin nur erschreckt wurde und in Notwehr zubiß.
Als der Junge zu Karin Jarut zurückkam, lag sie ohnmächtig zwischen den Steinen. Er trug sie zu ihrem Pferd, legte sie quer über den Sattel, setzte sich dahinter auf die Kruppe des Pferdes und ritt langsam, damit die weiße Frau nicht hinunterfiel, zurück nach Verasa. Der Bürgermeister des Ortes telefonierte sofort einen Krankenwagen aus Limassol heran. In der Zwischenzeit gab der zypriotische Dorfarzt eine Spritze in das Bein Karins.
»Wenn man nur die Schlange wüßte«, sagte er achselzuckend. »Falls es eine Viper war, wird die Frau in drei Stunden blau im Gesicht sein. Bleibt sie weiß, dann hat ein Höherer sie beschützt.«
Als der Krankenwagen mit heulenden Sirenen endlich aus Limassol kam, war Karin Jarut noch immer ohne Besinnung.
*
Die Morgenpost brachte Vera Marfeldt einen Brief.
Es war ein fast amtliches Schreiben:
»Sie werden gebeten, morgen um 10 Uhr zu Probeaufnahmen ins Funkhaus, Studio 6, zu kommen. Melden Sie sich bei Herrn Weismann.«
Probeaufnahmen!
Vera Marfeldt vertrödelte den ganzen Tag in der Stadt. Ansagen brauchte sie nicht mehr; der Sender hatte den Vorvertrag gelöst. Kurz und knapp. Telefonisch. Also hatte es Theo Pelz doch geschafft. In der Nacht schlief sie kaum vor Aufregung. Schon um neun Uhr war sie vor dem Funkhaus und ging ein paarmal um den großen Gebäudekomplex herum. Sie war mit dem Zug gekommen, Witwe Mayer hatte ihr belegte Brötchen eingepackt und sie mit Tränen in den Augen geküßt.
»Mut, Kindchen, Mut! Das kann deine große Chance sein …«
Um zehn Uhr meldete sich Vera bei Herrn Weismann. Er war Aufnahmeleiter, rief hinauf zu Theo Pelz und behandelte Vera wie jemanden, der Schnürsenkel an der Tür verkaufen will. Im Aufnahmeplan für Studio 6 war Vera Hartung, wie sie von jetzt an hieß, mit einer halben Stunde – einschließlich Proben – eingesetzt. Um elf Uhr begann die Ampex-Aufzeichnung von ›Musik zum Träumen‹. Um zwölf Uhr eine Tiersendung ›Affen sind auch Menschen‹. Dann Pause bis fünfzehn Uhr. Um fünfzehn Uhr dreißig, nach Umbau, zweiter Akt der Fernsehkomödie ›Eselsohren‹. Nebenan, in Studio 4, hörte man Trompeten durch die Wände. Im Cutter-Raum schnitten sie gerade den Film für das Nachmittagsprogramm zurecht. Eine Studie über Studenten: ›Halbgarer Protest‹.
Hilflos, wie vergessen, stand Vera in dem Trubel, der sie umflutete, herum. Kameras wurden auf gummibereiften Wagen hin und her geschoben, Scheinwerfer blendeten auf und ab und wurden eingestellt, auf sechs Monitoren flimmerte das Bild von Studio 6, wie Aufnahmeleiter Weismann drei Sessel in der Dekoration eines Biedermeierzimmers verstellte, aus allen Ecken kamen Rufe und Wortfetzen … Es war alles nichts Neues für sie, es gehörte fast schon zu ihrem Leben, und doch war es heute neu, geheimnisvoll, atemberaubend.
Die Stunde der großen Chance war gekommen.
Theo Pelz erschien im Studio. Er begrüßte Vera mit einem angedeuteten Wangenkuß und winkte Weismann zu.
»Können wir?«
»Jawoll, Herr Pelz.«
»Mit drei Kameras.« Pelz ging zum Telefonstand und rief hinüber zum Regieraum. Dort saß ein Regieassistent vor den Monitoren, um nach seinem Geschmack die Aufnahmen der drei Kameras zu mischen, zu überblenden, einzuordnen, damit sie zu einem lebendigen Film wurden. »Alles klar, Jupp?«
»Alles, Herr Pelz.«
»Abfahren.«
Vera stand plötzlich in gleißendem Scheinwerferlicht, völlig unvorbereitet, überrumpelt. Die Klappe knackte vor ihrem Gesicht.
Vera Hartung. 1. Aufnahme.
Die Kameras summten leise. Hilflos sah sich Vera um, hob die Arme und sagte kläglich: »Was soll ich denn sprechen? Mir hat doch keiner was gesagt. Was soll ich denn …?«
»Gut! Aus! Gestorben!« Theo Pelz winkte ihr von der Kamera II zu. »Das war sehr gut, Vera! Das war echtes Gefühl. Und nun Fremdtext.« Er kam zu ihr in das Scheinwerferlicht und gab ihr ein dickes gelbes
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