Der goldene Kuß
Karin Jarut wieder im Gespräch war. Die Presseleute des Senders hatten es geschickt verstanden, aus beiden Erlebnissen eine rührende Geschichte zu machen und sogar von einer unlösbaren Freundschaft zwischen Karin Jarut und Vera Hartung zu sprechen. Superlative waren in aller Munde. ›Die mutigste Schauspielerin, die es je gab‹, ›Ein Fernsehstar mit Tigermut‹, ›Das hat noch keine Frau geleistet‹ … mit solchen Überschriften hatte die Presse die Herzen von Millionen gerührt. Selbst aus den USA kamen Briefe; die dort sehr einflußreichen Frauenverbände wählten Vera Hartung zur ›Frau des Monats‹ und Karin Jarut zur ›Freundin, die jeder haben möchte‹.
»Das ist ja alles Wahnsinn«, stöhnte Karin, als Theo Pelz ihr die Nachricht brachte.
»Das ist Popularität, Süßes.« Pelz rieb sich die Hände wie einer, dem die Finger erfroren sind. »›Hosianna‹ und ›Kreuzigt ihn‹ liegen nahe beieinander, da siehst du es wieder. Vor drei Monaten warst du noch die Hexe des deutschen Fernsehens – jetzt umstrahlt dich ein Glorienschein. Trage ihn mit Würde und putze ihn fleißig. Millionen Frauenherzen werden schneller schlagen.«
Hinter der Bühne der riesigen Messehalle herrschte das große Lampenfieber. In den Monitoren lief das Vorprogramm ab: Wetterkarte, Abendansage des ganzen Programms, dann ein kurzer politischer Kommentar zur Lage, den man geschickt noch eingebaut hatte. Normalerweise hörten ihn nur wenige an, aber jetzt saß halb Europa vor dem Fernsehschirm und wartete auf den ›Goldenen Kuß‹. Notgedrungen mußten sie auch den Kommentar anhören. Er war sehr geistreich und beschäftigte sich mit einem bekannten Politiker.
Noch fünf Minuten.
Regisseur Cranz lief herum und brüllte. Aber niemand hörte auf ihn. Theo Pelz stand neben Vera und hielt ihre beiden Hände. Er sprach auch nichts, er drückte sie bloß. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Horst Helmke saß bleich hinter der Kamera I gleich vor der Bühne. Intendant Dr. Rathberg hatte seinen Platz in der ersten Reihe schon eingenommen. Auch er wirkte nervös und rieb öfter die Handflächen mit seinem Taschenbuch ab. Das Ballett hatte sich schon aufgestellt für den Auftakt, bevor der Quizmaster heraustrat. Ruhe und Gelassenheit gab es nur in der Technik. Hier saßen die Ton- und Bildingenieure. Draußen vor Halle III zwei Funkwagen, die Kopfhörer umgeschnallt. Sie warteten auf das Startzeichen.
»Ich werde verrückt!« stöhnte Cranz. Er raste schwitzend hinter der Bühne hin und her und suchte einen Mann, der völlig unwichtig war. »Wo ist Hämmerle?«
»Wer?« fragte Pelz verwundert.
»Hämmerle!«
»Unser Hausmeister, ja!« Cranz verdrehte die Augen. »Er soll doch in der zweiten Abteilung seine Rolle auf der Bühne spielen!«
»Weiß er das denn?« fragte Pelz ahnungsvoll zurück.
»Natürlich! Halten Sie mich für einen Idioten? Vor sieben Wochen haben wir geprobt. Mein Gott, was heißt proben … er braucht ja nur dazusitzen in seinem Glaskasten und viermal ›Guten Tag‹ zu sagen. Wo ist Hämmerle?!«
»Ich nehme an, vor seinem Fernsehgerät. Wenn Sie ihm nicht präzise gesagt haben, er soll heute abend …«
Cranz sank auf einen Stuhl und raufte sich die Haare. »Herr Direktor!« schrie er. »Nach dieser Sendung bin ich reif fürs Irrenhaus! Nichts klappt! Gar nichts! Man sollte sich aufhängen!«
Drei Minuten noch.
In den Monitoren ging der politische Kommentar zu Ende. Ein Bühnenarbeiter wurde weggeschoben zu den Garderoben und bekam eine Portiersuniform angepaßt. Von den Kameras kam die Meldung »Alles klar«. In der Halle verlosch langsam das Licht, auch die Bühne wurde dunkel. Sie flammte erst in vollem Licht auf, wenn die ersten Klänge des Orchester erschallten.
»Achtung!«
Die Sendewagen meldeten sich. Noch war das Funkhaus eingeschaltet. Die Sprecherin Luise Martini erschien auf dem Bildschirm.
»… und nun die große Show ›Der goldene Kuß‹. Angeschlossen sind die Fernsehsender von Österreich, der Schweiz, Italien und Frankreich, Belgien und der Niederlande. Wir schalten um in die Messehallen und wünschen Ihnen einen fröhlichen Abend …«
Ein Knopfdruck … auf den Monitoren erschien das Bild, das Kamera I gerade aufnahm: eine Totale der Bühne, schemenhaft, wie in Nebel gehüllt. Dann blitzte das Licht auf, die Kamera schwenkte zum Orchester, die ersten Töne der flotten Ouvertüre, ein Feuerwerk von bunten Kulissen strahlte auf die Zuschauer … achttausend Hände
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