Der goldene Kuß
hinter ihr her, den Klumpen weißer Schminke in der rechten Hand. Er kannte kein Mitleid mehr … eine blinde Wut stieg in ihm hoch, die alles andere überdeckte.
»Bleib stehen!« sagte er hart. »Bleib stehen!«
Biggi rannte durch die Kulissen, stolperte über Kabel und Versatzstücke, hetzte wie ein gejagtes Wild herum und erreichte die Tür. Sie war abgeschlossen. Verzweifelt rüttelte sie an der Klinke, aber als sie Cranz heranschnellen sah, rannte sie weiter. Es sah aus, als jage ein Faun eine halbnackte, herrliche Nymphe … nur war es hier kein Spiel mehr, sondern verzweifelter Ernst.
Mit ein paar Sprüngen schnitt Cranz Biggi Bergen den Weg ab. Er drängte sie in eine Ecke und verstellte ihr den Weg. Zitternd, mit entsetzensweiten Augen, den Mund zu einem Schrei geöffnet, starrte Biggi ihn an.
»Nimm die Schminke …« sagte Cranz schwer atmend. Er riß Biggi an sich. Sie trat ihm gegen das Schienbein, ihre kleinen Fäuste hämmerten auf ihn ein. Dabei schrie sie wie in höchster Todesangst.
»Hilfe! Hilfe! Nicht … nicht …«
Cranz spürte nicht den Schmerz an seinem Schienbein, die Faustschläge prallten an ihm ab wie an einer Puppe. Er sah nur die weiten Augen Biggis und daß sie genau wußte, was mit dieser Schminke war.
Mit einem wilden Ruck zog er sie an sich, seine rechte Hand fuhr blitzschnell empor und schmierte den weißen Fettkloß in Biggis Gesicht, bevor sie sich fallen lassen konnte. Sie brüllte auf, als sie die weiße Masse auf ihrer Haut spürte, versuchte, sie mit beiden Händen wegzuwischen, aber dadurch verschmierte sie die Schminke nur noch mehr und verrieb sie über ihre rechte Wange.
In diesem Augenblick zerbrach in Biggi Bergen aller Widerstand. Sie fiel auf die Knie, ihr herrlicher Körper war ein einziges Zucken.
»Einen Arzt!« schrie sie. »Helft mir doch! Helft mir doch! Ich will mein Gesicht behalten … ich … will … mein Gesicht …«
Mit einen ächzenden Laut fiel sie nach hinten um. Das Grauen hatte sie ohnmächtig gemacht.
Detlev Cranz sah zurück zur Rückwand des Studios III. Hinter dem Glasfenster zum Tonraum ging Licht an. Der Kopf von Theo Pelz drückte sich gegen die Scheibe.
»Hier haben Sie den Täter, Herr Direktor«, sagte Cranz hart. »Genügt Ihnen das?«
»Danke.« Die Stimme Pelz' war selbst im Lautsprecher wie mit Rost belegt. »Es ist alles auf Tonband.«
Cranz nickte. Er knipste das Mikrophon aus, drehte die Scheinwerfer aus und bückte sich dann. Mit einem Ruck warf er die ohnmächtige Biggi Bergen auf seine Schulter und verließ das Studio.
Es war ein Anblick wie nach einem Happening: Ein Mann in Hemdsärmeln trägt eine halbnackte Frau, deren eine Gesichtshälfte weiß geschminkt ist, weg, und das traurige Licht einer einsamen nackten Glühbirne begleitet sie.
Auf dem Gang zu den Garderoben begegneten sich Cranz und Theo Pelz.
»Was machen Sie nun mit ihr?« fragte Pelz. Cranz lächelte müde.
»Ich werde sie waschen, anziehen und dann hinauswerfen.«
Pelz nickte zustimmend und ging weiter. »Ich wußte schon immer«, sagte er dabei, »Sie sind ein Gentleman, Cranz … Sie vergessen das Waschen nicht …«
*
Die riesige Messehalle war ausverkauft.
Viertausend Menschen saßen dicht gedrängt auf den amphitheatralisch ansteigenden Stuhlreihen. Vierzig Millionen Zuschauer saßen zu Hause vor den Fernsehempfängern und hatten die Abendnachrichten hinter sich, sahen auf die Wetterkarte und warteten auf die Fanfarenstöße, die die neue große Sendung ›Der goldene Kuß‹ ankündigen sollten.
Endlich war es soweit: Der große Abend begann. Die Straßen waren leer! Bei den Betrieben, die auch Samstagabend arbeiten mußten, waren Fernsehapparate in den Hallen aufgestellt. Die Gaststätten waren voll, von den Wänden flimmerten die Mattscheiben. In Tausenden von Wohnungen wurden jetzt die Bierflaschen geöffnet und die Gläser vollgeschüttet, die Teller mit belegten Broten zurechtgerückt und die Kinder, die zuschauen durften, ermahnt, still zu sein.
Noch sieben Minuten.
Zwanzig Millionen Menschen setzten sich zurecht.
Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt …
Wochenlang hatten sie auf diesen Abend gewartet. Besuche, Besprechungen, Reisen waren abgesagt worden. Der Name Vera Hartung war in diesen Tagen bekannter als der eines Politikers, was einige Bonner Kreise mit saurer Miene registrierten. Die Bildberichte von dem Erdbeben auf Zypern, die wundersame Befreiung aus der Höhle kannte jeder in Europa. Hinzu kam, daß auch
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