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Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Adloff
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andere Gassenmeister an. »Ist der Herr Hausvater.«
    Zuerst sah Lips den Prügel, den der Hausvater nervös gegen seinen Schenkel schlug, wie es der Vater immer mit dem Brecheisen getan hatte, wenn Diebesbeute verteilt wurde. In der anderen Hand trug der Hausvater einen Holzklotz, an dem an einer Kette ein Fußeisen angeschlossen war. Selten hatte Lips einen Menschen gesehen, dessen Körper die Natur so hässlich verabsäumt hatte: Der Schädel war kahl, und die Ohren standen ab, als wollten sie alles mithören. Die vereinzelten Barthaare standen sträubig in alle Richtungen. Die Oberlippe war stark geschwollen, als hätte er frisch Prügel bezogen. Der Hausvater hatte den lauernden Blick eines Schlägers.
    »Taugt fürs Arbeitshaus«, sagte der Gassenmeister, der hinter dem Hausvater stand.
    »Nächsten Freitag tagt der Deputierten-Ausschuss«, sagte der Hausvater, bückte sich und schloss Lips den Klotz ans Bein. »Dann sehen wir weiter.«
    Die Gassenmeister schlossen nun die Handeisen ab und verabschiedeten sich. Lips war alleine mit dem Hausvater. Der ging stumm um ihn herum, hob mit dem Prügel Lips Mantel an und musterte ihn. Lips ließ die Schultern fallen und beugte sich nach vorne, damit er nicht größer als der Hausvater war. Dann baute dieser sich vor ihm auf. Lips sah den wippenden Stock und die andere Hand, die der Hausvater ihm mit gebeugtem Handrücken hinhielt. Lips zögerte einen Augenblick.
    »Nun?«, fragte der Hausvater.
    Lips kniete nieder und küsste die Hand.
    »Mitkommen!«
    Lips fasste den Holzklotz und folgte dem Hausvater in einen langen Flur, von dem zu beiden Seiten einige Zimmer abgingen. Es stank durchdringend nach Exkrementen und Kohlsuppe. Bei einigen Räumen fehlten die Türen, und es waren nur schwere eiserne Gitter davor. Klagen und Wimmern drang heraus, das vom Schreien Tobsüchtiger übertönt wurde. Über den Türen und Eingängen waren sorgsam gemalte Schilder. Auf einem las Lips: Krüppelsaal.
    An den Türen standen Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, alle in blauen Zwillich gekleidet und mit einem gelben Aufnäher auf dem rechten Arm. Ein Mann im Soldatenrock, dem beide Beine fehlten, robbte über den Flur und rollte sich schnell zur Seite, als er den Hausvater auf sich zulaufen sah.
    »Hast hier draußen nichts zu suchen!«, schrie der Hausvater, prügelte auf ihn ein und trat nach.
    Lips stand mit dem Klotz in der Hand und blickte in einen Raum, aus dem die merkwürdigen Schreie gellten. Auf dem Schild über dem Eingang entzifferte er: Tollstube. Ihm grauste beim Anblick: In einer Reihe standen niedrige Käfige, wie sie für Bären und wilde Tiere gebraucht wurden. In einem hockte ein nackter Mann auf verkotetem Stroh. Hände und Füße waren in Ketten geschlossen. Er schaukelte vor und zurück und schlug dabei mit der Stirn, die mit Lumpen umwickelt war, hart gegen das Gitter. In einem anderen Käfig rüttelte ein Mann in äußerster Tollheit am Gitter und gurgelte dabei in einer unverständlichen Sprache. Ein anderer versuchte durch die Eisenstäbe nach einem zerbeulten Becken mit einer Breipampe zu fassen, welches aber zum Käfig des Nachbarn gehörte und dort an eine Kette geschlossen war.
    »Hier rein!«, dirigierte der Hausvater mit dem Stock.
    In dem Raum, den er betrat, waren einige Spinte und Waschzuber, auch einige Eimer für die Notdurft standen in einer Ecke.
    »Ausziehen!«
    Zwischendurch schloss der Hausvater den Klotz ans andere Bein, damit Lips die Hose ganz abstreifen konnte. Es war kalt, und er fror, als er nackt dastand und mit beiden Händen seine Scham bedeckte. Der Hausvater nahm eine Schere und schnitt ihm das verlauste Haar in groben Schnitten ab. Als Lips sich im kalten Wasser wusch, durchsuchte der Hausvater die Kleidung. Sorgsam klopfte er Jacke und Mantel ab, ob etwas im Saum eingenäht war. Er fühlte unter dem Schweißband des Hutes, stülpte die Taschen um, Haferkörner fielen auf den Boden, und er legte alles zur Seite, was Lips zusammengestohlen hatte: das abgebrochene Messer, ein Stück Seil, ein paar gute Nägel, die er hatte eintauschen wollen, das letzte Stück rote Rübe, ein Lappen Wachstuch und die Flasche, die der Soldat ihm geschenkt hatte.
    Dann reichte der Hausvater ihm blaue Zwillich-Kleidung, wie sie die Männer und Frauen im Haus trugen. Auf dem Ärmel war ein gelber Aufnäher mit der Aufschrift: FRIDERICUS III. Anschließend führte der Hausvater ihn hoch in die obere Etage. Auf der Treppe wurde der Gesang lauter.

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