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Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Adloff
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ich selbst noch nicht zu Ende gedacht. Das passiert im Kopf, ist ganz merkwürdig mit den Buchstaben. Man liest nur Worte, aber man glaubt, dass man für einige Zeit ganz woanders ist. Man sieht die Welten richtig vor sich, auch andere Menschen. Die Welt, in der man lebt, ist dann auf einmal ganz verändert. Man hat die Gedanken des Schreibers im Kopf, die gehen dann nicht wieder raus und lassen einen hoffen auf ein erträgliches Leben. So wie die geheime Kunst der Alchemisten, die einen von einer besseren Welt träumen lässt, wo es für alle genug zu essen gibt, es alle warm haben und nicht Not leiden müssen. Vielleicht ist das Träumen ja das Wichtigste daran. Das Leben geht sowieso seinen Gang. Ich weiß es nicht. Aber du siehst mich so schräg an, verstehst wohl nicht, wovon ich rede. Na ja, woher auch.«
    »Zeigst du mir die Buchstaben?«, fragte Lips und schielte zu dem Schrank, in dem er die Bücher vermutete.
    Arnold überlegte eine Weile. »Nein, besser nicht, gibt doch nur Ärger mit Tullian. Ich seh ihn jetzt schon mit seinem Brecheisen vor mir stehen, wie er tobt, ich hätte dich verdorben. Aber jetzt wieder runter mit dir. Und du sagst keinem etwas über die Bücher, verstanden! Ehrenwort? Ich kann mich doch auf dich verlassen?«
    Lips nickte. »Ehrenwort.« Als er hinüber zum Stall ging, um das Vieh zu besorgen, sah er Arnold im Fenster stehen, den Zeigefinger auf dem Mund…
    ***
    Die Glocke riss Lips aus dem Schlaf. Zum Morgengebet ließen die Präzeptoren sie vor den Betten knien, dann ging es zum Morgenbrot. Es gab Brot und Salz, dazu plürriges Dünnbier. Es wurde erst nachgelegt, als alles aufgegessen war, und genau aufgepasst, dass niemand etwas einsteckte.
    Diesmal blieben die Reformierten im Saal zum Unterricht in Christentum. Lips nahm seinen Klotz und ging mit den Lutheranern hinunter in die Spinnstube. Einige Männer und Frauen standen schon an großen Rädern und Hecheln, an welchen Wolle gesponnen und gekratzt wurde. Lips wunderte sich, weil alle ganz erpicht auf die Arbeit waren und sofort mit hektischem Fleiß anfingen. Der Spinnmeister winkte Lips heran und führte ihn zu einer Tür.
    »Damit du weißt, wie es hier zugeht«, sagte der Spinnmeister und öffnete die Tür. Lips schauderte bei dem Anblick zurück: Zwei Jungen waren auf die Folter gespannt. Die Arme hatte man ihnen mit Stricken ausgedehnt und die Hände an eine Stange gebunden, sodass sie in einer Stellung waren, die mit dem Gekreuzigten eine große Ähnlichkeit hatte. Auch in diesem Zimmer, sah Lips, waren die Fenster mit starken Gittern versehen.
    »Und jetzt an die Arbeit!«
    Als endlich die Mittagsglocke schlug, waren ihm die Hände wund. Am Tisch der Reformierten saß wieder das Mädchen, das Lips am Vortag aufgefallen war. Beim Tischgebet öffnete er etwas die Augen, weil ihm das Bild der toten Mutter erschien, wie sie neben ihm in Stroh gebunden lag und ihn in Todesangst anstarrte, und er sah nun, dass alle andächtig dastanden, selbst der Hausvater, der versunken in der Nase wühlte. Nur der reformierte Präzeptor blickte lauernd auf das Mädchen. Sie hielt ihren Kopf nur etwas geneigt und erwiderte kurz dessen Blick, während der andere Präzeptor den Kindern in seinem Gebet den Wert eines seligen Todes erklärte: Eine gläubige Seele fände doch Trost und Zuversicht wider die Schrecken des Todes im Überfluss. Das Mädchen atmete bei den Worten tief durch, wobei sich ihre Brust hob. Sie schloss andächtig ihre Augen, blieb aber hochbrüstig und ließ den Kopf aufrecht erhoben.
    Lips vermied es beim Essen, auf das sauer gekochte Rindsgeschlinge zu sehen, und atmete gegen den Gestank. Blind löffelte er in sich hinein und sah zu dem Mädchen. Sie hatte diesen spöttischen Zug um ihren Mund und etwas Stolzes und Trotziges in ihrer Haltung, was ihn immer wieder hinschauen ließ. Mit Ekel um den Mund löffelte sie dem Nachbarkind etwas auf den Teller, strich die Locke ihres schwarzen Haares hinter ihr Ohr und tunkte ihr Brot in die Wasser-Brühe. Aus dem Augenwinkel sah Lips, dass auch der reformierte Präzeptor das Mädchen weiter beobachtete. Ihm tanzte aufgeregt der Halsapfel, als sie ihren Mittelfinger an den Mund führte und mit der Zunge benetzte. Dann tippte sie mit der feuchten Fingerspitze die Brotkrümel vom Tisch auf. Plötzlich stand der lutheranische Präzeptor hinter Lips. Er sah noch die Faust, wollte sich wegdrehen, aber da traf ihn schon eine Kopfnuss. »Was gibt's denn da zu gaffen!«
    Nach dem

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