Der Gottesschrein
»Allmächtiger Gott!«, flüstert er. »Die Bundeslade.«
»Das Symbol für die Heil bringende Gegenwart Gottes bei seinem auserwählten Volk.«
»Und für die Hoffnung auf einen Sieg im Kampf um das Gelobte Land«, ergänzt Benyamin mit trockener Stimme. »Die Macht der Bundeslade hat die Mauern von Jericho zum Einsturz gebracht, sodass Yoshua die Stadt erobern konnte.« Er beugt sich vor und zieht meine Skizze der Cherubim, die den Gottesschrein bewachen, unter dem Papyrus hervor. »Du warst mit ihr im Labyrinth.«
»Ja«, gestehe ich, während ich uns Qahwa mit karamelisiertem Zucker und einer Prise Zimt einschenke.
»Danke«, murmelt er gedankenversunken, als ich ihm sein Glas reiche. »Hältst du die Handschrift für echt?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gestehe ich. »Ich glaube, der Papyrus ist nicht das, was er vorgibt zu sein.«
Benyamin hebt die Augenbrauen.
»Der Prophet Baruch ben Nerija war der Schreiber des Propheten Jeremia, sein Schüler und Freund. Er hat das Buch Baruch verfasst, das in die römisch-katholische und die griechisch-orthodoxe Bibel aufgenommen wurde, nicht jedoch in die jüdische. Dieser mystische Text, die Baruch-Apokalypse …«, ich deute auf die Schriftrolle, »… ist weder Teil der griechischen Septuaginta noch der lateinischen Vulgata. Er gehört jedoch zur Peshitta, der Bibel der syrischen Christen.«
»Sieh mal an. Und woher weißt du das?«
Ich zeige ihm das Bündel gerollter Pergamentseiten mit Mar Abdul Masihs Übersetzung und seinen Kommentaren zur mysteriösen Satzstellung und den beiden Abschreibefehlern. Alessandra hat mich gebeten, die lateinische Übertragung mit der aramäischen Handschrift zu vergleichen, während sie mit Uthman Tee trinkt.
»Baruch kündigt die Zerstörung von Jeruschalajim an. Auf den ersten Blick liest sich der Text wie eine Beschreibung der Eroberung Jeruschalajims durch die Babylonier, die hier Chaldäer genannt werden.«
»Auf den ersten Blick?«
»In seinem Kommentar hat Mar Abdul Masih auf einen Fehler des Kopisten hingewiesen, der im Text zwei Mal vorkommt. In der Peshitta heißt es: das Heer der Chaldäer. In diesem Papyrus heißt es: das Heer des Chaldäers belagere die Stadt.«
»König Nebukadnezar von Babylon?«
»Der Papyrus könnte auch ein dem Propheten Baruch zugeschriebener Bericht aus den Jahren nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 sein.«
»Rom als Babylon. Titus ante portas.«
»So ähnlich.«
»Titus hat die Menora, nicht aber die Bundeslade nach Rom gebracht.«
»Genau.«
»Und Flavius Josephus, der Titus nach Rom begleitet hat, erwähnt die verborgenen Gänge unter dem Tempelberg.«
»So ist es.«
»Du glaubst also, was Baruch geschrieben hat?«
Ich nicke langsam. »Sie ist noch in Jeruschalajim.«
»Was hast du vor, Yared? Doch nicht …« Als ich bedächtig nicke, ruft er verzweifelt: »Ins Labyrinth zurückzukehren ist reiner Irrsinn!«
»Die Bundeslade wäre ein wunderbares Symbol der Hoffnung, dass Gott sein Volk nicht vergessen hat. Dass er sich an das Wort hält, das er Moses gegeben hat. ›Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, damit er dich auf dem Weg bewahrt und dich an den Ort bringt, den ich für die Israeliten bereitet habe. Wenn du alles tust, was ich sage, werde ich Feind deiner Feinde sein. Denn mein Engel wird vor dir hergehen und dich ins Gelobte Land führen.‹«
» ¡Por Dios! Ich fasse es nicht! Du riskierst dein Leben, Yared! Das wird der Sultan dir nie verzeihen.«
»Und du, Benyamin? Wirst du mir vergeben, dass ich dein Leben in Gefahr bringe?« Ich atme tief durch. »Benyamin«, beschwöre ich ihn eindringlich, »ich will, dass du mich verlässt, bevor ich ins Labyrinth des Tempelbergs hinabsteige. Sobald du heute Abend aus der Synagoge zurückgekehrt bist, wirst du deine Truhen packen und morgen früh zu deiner Familie nach Al-Kahira zu…«
»Vergiss es! Ich ertrage die ägyptische Knechtschaft nicht mehr, die Gewalt, die Demütigungen, die Angst. Du weißt doch, was meiner kleinen Yael widerfahren ist! Sie haben sie vergewaltigt! Ein dreizehnjähriges Kind! Gracias a Dios hast du ihr das Leben gerettet. Aber was tun sie mit ihr, wenn sie eine junge Frau von sechzehn, siebzehn, achtzehn ist? Ich habe Angst um meine Töchter, um meine Söhne, die bald Bar Mizwa feiern, und um meine Frau. So kann ich nicht weiterleben. Ich bin bereit, für die lang ersehnte Freiheit zu kämpfen! Führe uns aus Ägypten, Yared, zurück in das Land, das einst unsere Heimat war.
Weitere Kostenlose Bücher