Der Gottesschrein
beharrlich und methodisch. Und sie verfügt über ein enormes Wissen. Das Evangelium von Al-Iskanderiya war offensichtlich nicht die erste antike Handschrift, die sie in Händen gehalten hat. Ihr Stirnrunzeln verrät mir, dass sie angestrengt über etwas nachsinnt. Ich warte ab, wie ihr Urteil über die Baruch-Apokalypse lauten wird.
»Qahwa?«
Sie blickt kurz auf. »Sehr gern.«
Ich schenke ihr ein und verschütte beinahe den heißen Qahwa, als sie mit ihrem Dolch einen schmalen Streifen vom unteren Rand der Schriftrolle abtrennt. Zu meinem Erstaunen hält sie den Papyrusfetzen in die Flamme der Kerze, beugt sich über den verglühenden Schnipsel und schnuppert an dem wohlriechenden Rauch, der als feiner Faden zur Decke kringelt. Dann nimmt sie mir das Glas aus der Hand und trinkt. »Yared, dieser Papyrus ist nicht …«
Nach kurzem Klopfen steckt Benyamin den Kopf zur Tür herein. »Tayeb fragt, ob er sich den Papyrus ansehen darf.«
Als ich nicke, betritt Tayeb unsicher mein Arbeitszimmer und verneigt sich vor mir. »Emir.«
»Tayeb!« Ich erhebe mich und gehe ihm entgegen, um ihn zum Diwan zu führen. »Du solltest dich noch ausruhen.«
»Es geht mir gut«, lächelt er verkniffen und senkt scheu den Blick – am liebsten hätte er sich wohl seinen Tagelmust vor Mund und Nase gezogen, um sein Gefühl der Ohnmacht zu verbergen. Und seine tiefe Verunsicherung mir gegenüber – er hat Benyamin gefragt, was vor zwölf Jahren während der Eroberung von Timbuktu durch die Tuareg geschehen war. Tayeb war in der Stadt gewesen, um sich an der Sankoré-Universität als Gelehrter zu bewerben, als die Tuareg Timbuktu besetzten. Er weiß, dass ich die Kriegsbeute des Amenokal, des Königs der Tuareg, gewesen bin und was Akilu-ag-Malwal mir angetan hat, als er mir meine Würde als Mensch nahm und meinen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes aus mir herausprügelte. Und er weiß auch, wie mir nach fünf Jahren Sklaverei die Flucht von Timbuktu nach Agadez und allein durch die flirrende Hitze und die endlosen Weiten des Ténéré nach Ghat und über die Route der Sklavenkarawanen nach Tarabulus gelungen ist.
Als ich Tayeb in die Augen sehe, wendet er den Blick ab und schaut zu Boden – eine Geste der Unterwerfung. Er hat immer noch Fieber, ist blass und zittrig und so schwach, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann. Ich stütze ihn, und er lehnt sich gegen mich. »Ich bin nur ein wenig benommen vom Opium«, nuschelt er.
Ich deute auf den Diwan. »Setz dich zu uns, Tayeb.«
Alessandra schüttelt mehrere Kissen auf, die sie ihm, nachdem er sich gesetzt hat, hinter den Rücken stopft. Dann schiebt sie ihm ein dickes Polster unter den verletzten Arm. Er murmelt einige Worte in der Sprache der Tuareg, sie lächelt und haucht ihm einen Kuss auf die Wange und antwortet so leise, dass ich sie kaum verstehen kann.
Dann setzt sie sich wieder neben mich. »Was ich eben sagen wollte … Der Papyrus ist nicht antik.«
Tayeb, der eben noch gebannt die ausgerollte Schriftrolle betrachtet hat, starrt sie entgeistert an.
»Das habe ich mir schon gedacht«, gestehe ich. »Ich bezweifle, dass die Handschrift vom Propheten Baruch verfasst wurde. Die Apokalypse beschreibt nicht die Eroberung Jeruschalajims durch die Babylonier, sondern die durch die Römer.«
»So. Und woher weißt du das?«, fragt Alessandra.
»Einige der Verse der Apokalypse erinnern mich an ähnliche Passagen in der rabbinischen Literatur. Warte, ich zeige sie dir.« Ich rolle den Papyrus einige Abschnitte weiter und deute auf den aramäischen Text. »Nachdem das Volk nach Babylon verschleppt wurde, sitzt Baruch vor den Toren des Tempels und beklagt dessen Zerstörung. Hier steht es, siehst du? ›Ihr Priester, nehmt die Schlüssel des Heiligtums, und werft sie hinauf in die Himmel, und gebt sie dem Herrn und sagt: Wache selbst über dein Haus, denn wir haben es treulos verwaltet.‹ Was hier eine poetische Ausschmückung zu sein scheint, ist in der rabbinischen Literatur jedoch eine historische Begebenheit. Ein Augenzeuge der Zerstörung des Tempels durch Titus bezeugt, dass Tempelpriester die Schlüssel des Tempels gen Himmel schleuderten und riefen: ›Hier sind deine Schlüssel! Wir sind unzuverlässige Wächter deines Tempels.‹«
»Dann stammt der Text also aus dem ersten Jahrhundert?«, fragt Tayeb.
Ich sehe ihn an und nicke.
»Aber hat Flavius Josephus nicht geschrieben, dass das Allerheiligste des herodianischen Tempels leer war?«, fragt
Weitere Kostenlose Bücher