Der Gottesschrein
in denen er geblättert hat.
»Dies ist der Vers, an den ich mich erinnere. Der Prophet Baruch beobachtet, wie das Heer des Chaldäers die Stadt belagert und beklagt das Schicksal Zions: ›Und plötzlich hob mich eine starke Kraft über die Mauern von Jerusalem. Vier Engel standen in allen vier Himmelsrichtungen, jeder mit einer flammenden Fackel in der Hand. Und ein anderer Engel stieg vom Himmel herab und sagte zu ihnen: Haltet eure Lampen bereit, entzündet sie jedoch nicht, bevor ich es euch befehle. Und ich sah ihn in das Allerheiligste herabsteigen und den Vorhang fortnehmen, die heilige Lade, die Gewänder der Priester, den goldenen Räucheraltar, die achtundvierzig Edelsteine, mit denen der Hohepriester geschmückt wird, und all die heiligen Gefäße des Tabernakels. Und er rief: Erde, höre das Wort des allmächtigen Gottes, und empfange, was ich dir anvertraue, und bewache es bis zum Ende aller Zeiten, sodass kein Heide es je finden kann. Denn die Zeit wird kommen, da Jerusalem für immer wiederersteht. Und die Erde öffnete sich und nahm alles in sich auf.‹«
Ich gebe Tayeb die Übersetzung zurück. »Das bedeutet: Die Bundeslade liegt unterhalb des Allerheiligsten des salomonischen Tempels.«
»Warum haben die Templer den Papyrus gefälscht?«, fragt Yared.
»Keine Ahnung. Die einzigen Abweichungen zum Peshitta-Text sind die groteske Satzstellung, auf die Mar Abdul Masih verweist, und die beiden Abschreibefehler, die …«
»W’Allah!«, murmelt Tayeb plötzlich und starrt auf die Pergamente.
»Was ist?«
»Ich weiß, wer der Chaldäer war, dessen Heer vor den Toren Jerusalems stand!«, sagt er. Er hat Mühe, die Augen offen zu halten. »Sultan Salah ad-Din. Er ist der rätselhafte Chaldäer«, nuschelt er. »In Timbuktu habe ich etliche Vorlesungen über islamische Geschichte gehört. Und über Salah ad-Din, den von Allah gesandten Befreier des Islam. Ist er nicht in Tikrit geboren, einer Stadt am Tigris nördlich von Bagdad, dem alten Babylon? Salah ad-Din Yusuf bin Ayyub war Kurde! Deshalb nannten ihn die Templer ›den Chaldäer‹!«
»Der Papyrus ist also nach der Eroberung von Jeruschalajim im Jahr 1187 verfasst worden?«, fragt Yared.
Mein Blick gleitet über die aramäischen Schriftzeichen. Unvermittelt halte ich inne. Was ist das?
Tayeb nickt verhalten – selbst diese kleine Bewegung bereitet ihm offenbar Schmerzen. »Nachdem die Templer ihr Hauptquartier in der Al-Aqsa aufgeben mussten und aus Al-Quds vertrieben wurden.«
»Und wozu?«
Bevor Tayeb antworten kann, lege ich Yared die Hand auf den Arm und deute auf den Papyrus. »Wieso sind diese Buchstaben unterstrichen?« Ich zeige auf ein Mim im ersten Rollenabschnitt, auf ein Alaph im dritten und ein Yodh im fünften. »Das sind doch keine Punkte und Striche oberhalb und unterhalb der Buchstaben, die Vokale wie Yodh und Waw anzeigen.«
Yared runzelt die Stirn. »Nein.«
»Irgendeine Idee?«
Er schüttelt den Kopf. »Da sind noch mehr markierte Zeichen, siehst du? Die Abstände sind unregelmäßig, die Zeichen stehen sowohl am Wortanfang als auch in der Mitte oder am Ende. Ich kann überhaupt kein Muster erkennen.«
»Ergeben sie, wenn man sie hintereinanderschreibt, ein aramäisches Wort?«
»Resh … Waw … Lamadh … Gamal. Nein, das macht keinen Sinn.«
Ich knie mich vor den Schreibtisch, ziehe Tintenfass und Feder zu mir heran und übertrage die Zeichen auf ein Blatt Papier. Nach den ersten Zeichen stutze ich. Nein, das kann nicht sein! Mit vor Aufregung zitternden Fingern rolle ich den Papyrus bis zum Ende und kopiere die letzten Buchstaben.
Dann atme ich tief durch und gebe Yared den Zettel. »Lies!«
»Mim Alaph Yodh Resh Waw Lamadh Gamal – das ergibt keinen Sinn!«
»Doch, Yared, aber du musst es andersherum lesen. Nicht von rechts nach links wie im Aramäischen, sondern von links nach rechts wie im Lateinischen. Und du musst es laut lesen.«
»Nun Waw Nun Nun Waw Beth Yodh Sadhe.« Langsam schüttelt er den Kopf. Sein Blick huscht über das Papier.
Dann sieht er es auch.
»Allmächtiger Gott!«, flüstert er atemlos, und seine Augen leuchten, als er mich ansieht – er ist so aufgeregt wie ich. »Da steht: ›Non nobis, Domine, non nobis, sed nomini tuo da gloriam!‹«
»›Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre!‹«, brummt Tayeb, der mit halb geschlossenen Augen in den Kissen liegt und langsam in den Schlaf der Erschöpfung hinübergleitet. »Der Wahlspruch … der
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