Der Gottesschrein
Baumes vor dem Schrein und intoniert zum Ruhme Gottes den hundertfünfzehnten Psalm: »›Nicht uns, o Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre wegen deiner Gnade, wegen deiner Treue! Israel, vertraue auf den Herrn! Dein Schwert und dein Schild ist er. Der Herr segnet das Haus Israel. Wir aber, wir werden den Herrn preisen von nun an bis in alle Ewigkeit. Halleluja!‹«
Während der singende Haile Selassie das goldene Weihrauchgefäß schwenkt und das Manbar mit dem geweihten Duft beräuchert, kniet der Gesalbte in einem Regen von herabrieselnden violetten Blüten nieder und verneigt sich tief.
Beunruhigt blickt Konstantin hinüber zu Sultan Bedlays Heer, das sich zwischen den Baobab-Bäumen der weiten Hügellandschaft bedrohlich nähert. Er springt auf sein Pferd und trabt die Reihen der Krieger entlang. »Haltet die Formation! Weicht keinen Schritt zurück! Der Allmächtige wird dem Neguse Negest den Sieg über die Übermacht der Feinde Gottes schenken! Im Namen Iesou Christou, der sein Leben opferte und für euch am Kreuz starb: Seid standhaft und zuversichtlich, wie der Sohn Gottes es bis zu seinem letzten Atemzug war!«
Entschlossen beugt sich Zara Yakob vor und hebt Schicht um Schicht den schweren purpurnen und goldenen Brokatstoff an, der den uralten Schrein aus Akazienholz verhüllt.
Die Patriarchen Gabriel und Mikael weichen mit ihrem Gefolge aus Priestern, Diakonen und Mönchen zurück und wenden sich mit gesenktem Blick ab. Denn nicht einmal ihnen, den Hohepriestern des Reiches, ist es gestattet, das heilige Manbar unverhüllt zu sehen. Nur der Wächter der Lade, der Nachfolger der Söhne Arons, bleibt mit verschleiertem Gesicht an der Seite des Kaisers.
Andächtig küsst Zara Yakob das Manbar. Die Prozessionen an den Timkat- und Fasikafesten, der Weihrauchduft, das Taufwasser und das Opferblut haben das jahrtausendealte Holz splittern lassen.
Sieben goldene Siegel verschließen den ehrwürdigen Gottesschrein, der das allerheiligste Tabota Tseyon und die Sellat Muse bewahrt.
Patriarch Gabriel zieht die verkrampften Schultern hoch, als sich der Gesalbte an der Lade des Gottesbundes zu schaffen macht, um das erste der sieben Siegel zu öffnen.
»›Und ich sah rechts von dem, der auf dem Thron saß, ein Buch, innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt‹«, zitiert er, im Herzen berührt das Buch der Offenbarung. »›Ein gewaltiger Engel rief mit lauter Stimme: Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen? Aber niemand im Himmel und auf der Erde konnte das Buch öffnen und lesen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde. Da sagte einer der Ältesten zu mir: Weine nicht! Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids. Er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen.‹«
Mit einem leisen Knirschen öffnet der Erwählte Gottes das erste Siegel.
Erleichtert atmet Gabriel auf. Leise rasseln die goldenen Ketten des Räuchergefäßes, das der Wächter der Lade schwenkt. Es ist so still, dass Zara Yakob das Atmen der Männer um sich herum vernehmen kann.
Der Gesalbte öffnet das zweite Siegel. Das dritte zerbricht und fällt zu Boden. Der Wächter der Lade, der noch immer sein Weihrauchgefäß schwenkt, kniet respektvoll neben dem Kaiser nieder und hebt es auf.
Das vierte Siegel öffnet sich leicht. Das fünfte Siegel jedoch bereitet dem Gesalbten des Herrn Schwierigkeiten und lässt sich zuerst nicht öffnen. Doch schließlich gibt das uralte Schloss mit einem vernehmlichen Knirschen nach. Dann fällt auch das sechste Siegel.
Sosehr der Kaiser sich bemüht: Das siebte Siegel bleibt verschlossen.
Ein vorwitziger Wiedehopf mit zerrauften gelben Brustfedern fliegt heran und landet auf der heiligen Lade. Während er sein Gefieder ordnet, ruckt der Kopf mit den schwarzen Augen und dem langen, gebogenen Schnabel hin und her. Mit schräg gestelltem Kopf beobachtet er aufmerksam den vor ihm knienden Kaiser.
Gabriel, der über seine Schulter blickt, belächelt die Unverforenheit des Wiedehopfs und beendet sein Gebet mit tiefem Seufzen.
Der König der Könige erhebt sich, streicht mit beiden Händen seine Robe glatt und blickt hinüber zu den karstigen, baumbestandenen Felsen, hinter denen in einem weiten, paradiesischen Tal wie im Garten Eden die Stadt Aksum liegt. Sein Blick sucht die Ruinen des Palastes der Königin Makeda von Saba in einem Wald von Weihrauchbäumen, dann auf dem Berg unter einem uralten
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