Der Gottesschrein
die nun auch Byzanz bedrohen. Konstantin sieht den Kaiser eindringlich an. »Der Sultan wird uns überrennen, Euer Majestät. Wir sollten uns zurückziehen und auf Verstärkung warten.«
»Und die Kathedrale von Maryam Tseyon den Feinden Gottes überlassen, damit sie sie plündern und niederbrennen? Niemals!«
»Ich wünschte, Euer Neffe, Prinz Solomon, wäre jetzt hier. Er würde Bedlay das Fürchten lehren«, murmelt der Mamelucke, der dem muslimischen Glauben abgeschworen hat, um wieder orthodoxer Christ zu sein. »Ich habe seinen Freund, den Sizilianer Piero da Messina, nach Jerusalem geschickt, um Solomon zurückzuholen.«
Der Erwählte Gottes blickt ihn durch den Gesichtsschleier hindurch von der Seite an. »Hast du Angst, Konstantin?«, fragt er leise.
Der Byzantiner senkt beschämt den Blick, berührt mit den Fingern das in seine Stirn tätowierte Kreuz und nickt stumm. Als er wieder aufblickt, tritt ein verschmitztes Lächeln auf seine Lippen. »Ich weiß, ich sollte mich nicht fürchten, denn Eure Majestät werden auch in dieser Schlacht Eurem Ruf gerecht werden und siegen.«
Der Neguse Negest hebt die Augenbrauen. »Meinem Ruf?«
»Der Kaiser von Byzanz hält Euch für den Priesterkönig Johannes, der den Islam vernichten und dem wahren Glauben Iesou Christou zum Sieg verhelfen wird.«
Zara Yakob verzieht die Lippen zu einem vergnügten Lächeln. »Wo ist das Manbar?«
»Dort drüben.« Konstantin deutet auf die allerheiligste Lade, die von Haile Selassie, dem Wächter der Lade, auf dem Kopf getragen wird.
»Lass es herbringen!«, befiehlt der Kaiser. Die dröhnenden Stimmen Tausender Muslime, die in den Kriegsruf ihres Sultans einfallen, übertönen beinahe seine Worte. Er drängt sich durch die Reihen seiner Offiziere und wendet sich dem Opfertier zu, einem Löwen. Ihn zu töten bezeugt seine kaiserliche Macht. Seine Unbesiegbarkeit.
Mit angehaltenem Atem beobachten die Krieger, die er in Aksum um sich geschart hat, wie Zara Yakob den Schleier zurückschlägt, der sein Gesicht und die Kriegerkrone aus geflochtenem Löwenhaar verhüllt, sein Schwert zieht und sich dem Löwen nähert. Die Abunas haben Mühe, die Bestie festzuhalten. Unbändig reißt der Löwe an seinen golddurchwirkten Fesseln, bäumt sich mit aller Kraft auf, wirft seinen Kopf hin und her und versucht, nach Abuna Gabriel zu schnappen. Behände weicht der Ägypter dem Löwen aus und springt mit wehendem Patriarchengewand zurück.
Langsam nähert sich der Kaiser mit dem Schwert. Brüllend zerrt der Löwe an den Fesseln, fletscht die Zähne, rollt die Augen und spannt die Muskeln an zum Sprung. Als der Kaiser vor ihm stehen bleibt, wirbelt die Bestie plötzlich herum, um sich auf den Neguse Negest zu werfen. Die Abunas können ihn nicht mehr aufhalten. Entsetzt stöhnt Patriarch Mikael auf, als der Löwe sich losreißt.
Die umstehenden Krieger halten gebannt den Atem an.
Der Gesalbte Gottes ist in Lebensgefahr!
Im letzten Augenblick reißt Zara Yakob sein Schwert hoch und stößt es dem springenden Löwen in die Brust. Blut spritzt auf und netzt die Seidenrobe, die er unter seiner Rüstung trägt. Mit einem Brüllen, das die Erde erzittern lässt, fällt der mächtige König der Tiere zu Boden und verendet röchelnd.
Stille.
Dann ein erleichtertes Aufseufzen. Der Allmächtige hat Zara Yakob beschützt. Gott ist auf seiner Seite.
Ein Diakon, der eine der kaiserlichen Kronen trägt, kniet neben dem Löwen nieder und fängt das Blut in einer goldenen Schale auf. Sodann erhebt er sich, versprengt einige Tropfen gen Himmel und reicht die Schale dem Kaiser, der nach einem gemurmelten Gebet das alttestamentliche Blutopfer darbringt.
Mit weittragender Stimme betet er: »Steh mir bei, Gott des Moses und des Aron! Gürte mich mit dem Schwert, das zwei Schneiden hat: Gebet und demütige Unterwerfung unter deine göttliche Macht. Rüste mich mit einem den Sieg verheißenden Harnisch: Glaube, Selbstvertrauen und Zuversicht. Schenk mir den Triumph über deine Feinde, Herr, mein Gott, die ich in deinem Namen vernichten will! Gewähre mir den Sieg in dieser Schlacht!«
In einer feierlichen Prozession mit Trommeln und Trompeten, Psalmengesang und Sistrenklang geleiten die Abunas und ihr Gefolge das verhüllte Manbar zum Neguse Negest und stellen die heilige Lade des Gottesbundes unter einem violett blühenden Baum vor Zara Yakob ab.
Haile Selassie, ›die Macht der Dreifaltigkeit‹, der Wächter der Lade, tanzt im Schatten des blühenden
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