Der Gottesschrein
nachzudenken, worauf ich verzichten kann: auf mein Leben oder auf meine Liebe.« Dann wischt sie sich die Tränen aus den Augen, nimmt die Baruch-Apokalypse von meinem Schreibtisch und verlässt den Raum.
Wie erstarrt blicke ich auf die geschlossene Tür. Dann kann auch ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ich habe sie verloren.
· Alessandra ·
Kapitel 49
In Tayebs Schlafgemach in der Zitadelle
Fasika, 2. Miyazya 6945
18. Dhu’l Hijja 848, 21. Nisan 5205
Ostersonntag, 28. März 1445
Zur Zeit des Mittagsgebets in der Al-Aqsa
Als ich leise Tayebs Schlafgemach betrete, sehe ich, wie er vor dem Bett kniet, sich steif in Richtung Mekka verneigt, ohne die Stirn auf den Boden zu pressen, und das Mittagsgebet spricht.
Ich knie mich neben ihn und nehme seine Hand. Er unterbricht sein Gebet. Er sieht meine Tränen. Ich muss ihm nichts erklären.
»Wir müssen die Zitadelle sofort verlassen!« Ich erhebe mich wieder und reiche ihm meine Hand, um ihm aufzuhelfen.
Hastig ziehe ich ihm eine weite Djellabiya über und packe ein paar Sachen zusammen. Den größten Teil unseres Gepäcks müssen wir zurücklassen. Dann stopfe ich die Baruch-Apokalypse, mein Notizbuch und das Templerschwert mit Arons Blut in die Tasche und werfe sie mir über die Schulter.
»Komm, Tayeb. Leg deinen Arm um mich. Ja, genau so. Stütz dich auf mich! Wirst du es schaffen?«
Er nickt. Seine Lippen sind verkniffen.
Wenig später taumele ich mit Tayeb, der schwer an meinem Arm hängt, auf den Hof der Zitadelle, wo etliche Mamelucken im Sand knien und beten. Sie richten ihren Blick nach Süden, nach Mekka, und wenden uns den Rücken zu.
Nur wenige Schritte sind es über den Hof, dann haben wir das erste der beiden Festungstore erreicht.
»Y’allah!«, murmele ich und ziehe Tayeb zu dem offenen Portal.
Kein Bewaffneter springt auf, um uns auf Befehl von Prinz Uthman aufzuhalten. Verstohlen werfe ich einen Blick über meine Schulter. Die Mamelucken drücken ihre Gesichter in den Staub – niemand beachtet uns.
Ich atme auf und sehe hinauf zum Fenster von Yareds Arbeitszimmer. Steht er dort oben mit dem Koran in der Hand und denkt sich den Verstand wund, ob er konvertieren soll?
Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen. Als ich ihm sagte, dass ich ihn nicht als seine Gemahlin nach Al-Kahira begleiten wolle, hat er mich angesehen, als hätte ich ihm einen Dolch ins Herz gerammt.
Quälend langsam überqueren Tayeb und ich den Vorhof zum Hauptportal der Zitadelle. Trotz der Gefahr eines Sturmangriffs durch die Mamelucken des abgesetzten Vizekönigs von Dimashq, Tughan al-Uthmani, steht das Tor weit offen. Die Torwächter beten und werfen uns nur einen kurzen Blick zu.
Wir können die Zitadelle verlassen!
Doch die Freude währt nicht lange. Als Tayeb und ich Arm in Arm das Tor durchqueren wollen, zucke ich erschrocken zusammen und bleibe stehen.
Umringt von Karim und seinen Freunden sitzt Arslan auf einer niedrigen Brüstung vor der heruntergelassenen Zugbrücke und erzählt den Jungen, die ihm gebannt zuhören, von Al-Kahira, von der Ibn-Tulun-Moschee und der mächtigen Zitadelle. Der Palast des Sultans scheint einem von Sheherazades Märchen aus tausendundeiner Nacht zu entstammen und die Residenz des berühmten Kalifen Harun ar-Rashid in Bagdad an Pracht und Glanz noch zu übertreffen.
Ioannis erkennt mich, springt auf und rennt zu mir herüber.
Überrascht wendet Arslan sich um. »Alessandra! Und Tayeb!«
Obwohl mein Herz bis zum Hals klopft, zwinge ich mich zu einem fröhlichen Lächeln. »Prinz Arslan, ich sehe, du machst mir mein Gefolge abspenstig.«
»Sei unbesorgt, ich kann keinen der Jungen zum Verrat bewegen. Sie sind dir treu ergeben bei deiner aufregenden Suche nach den Tempelrittern und deren geheimnisvollem Schatz. Das ist das größte Abenteuer ihres Lebens.« Er lacht und streicht Khalid, der mit leuchtenden Augen zu ihm aufsieht, über das Haar. »Ich liebe Kinder.«
»In sechs Wochen wird dein erstes Kind geboren.«
»Insh’Allah! Wie ich mich darauf freue, den kleinen Spatz im Arm zu halten!«, gesteht Arslan. »In zwei Tagen brechen wir endlich auf. Wie ich mich auf zu Hause freue! Ich zähle schon die Stunden.« Besorgt mustert er Tayeb, der sich an mir festhält, um nicht zu stürzen. »Wohin wollt ihr?«
»Tayeb will in der Al-Aqsa beten.«
Arslan betrachtet die schwere Tasche über meiner Schulter. »Weiß Yared, dass ihr die Zitadelle verlasst?«
Ich schüttele den Kopf.
Er blickt mir in die
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