Der Gottesschrein
ein schlichtes weißes Seidentuch, das sein Gesicht verhüllt.
»Was singen sie? Es klingt so freudig beschwingt!«, ruft Arslan mit leuchtenden Augen und deutet auf die Priester und Diakone, die in ihren glitzernden Gewändern aus Seide und Brokat um uns herumtanzen und Handkreuze, Gebetsstäbe und Weihrauchgefäße schwenken. Einige tragen die goldenen Kronen der Neguse Negest. Die Kaiser haben sie als Opfergabe den Kirchen in Lalibela oder Aksum gespendet.
»Sie singen die Psalmen. Sie feiern Fasika, die Auferstehung Jesu Christi. Heute ist Ostersonntag.«
»Ich weiß.«
»Ich weiß, dass du’s weißt«, meine ich trocken.
Da ist wieder dieses jungenhafte Grinsen, das den Sultan zur Verzweiflung treibt! Der verträumte Blick, mit dem er die Prozessionskreuze und Räuchergefäße betrachtet, verrät mir, dass der süße Duft des Weihrauchs eine ähnlich berauschende Wirkung auf ihn hat wie Haschisch.
Na, wenn es ihn glücklich macht!
Wie er genieße ich still lächelnd dieses archaisch anmutende Fest mit Psalmen, Sistren und Trommeln, ein zutiefst jüdisches Fest, das mich in ein fernes Jahrtausend zurückversetzt. Wenn ich jetzt die Augen schließe, mich umwende und sie wieder öffne, sehe ich gewiss König Salomos Tempel über dem Felsen Morija aufragen …
Tief atme ich die betörenden Gerüche ein und wiege mich im langsamen Rhythmus der Psalmen. Die ausgelassene Stimmung ist ansteckend.
Ein schrilles Trillern übertönt den Psalmengesang.
»Da drüben! Sieh dir das an, Yared!« Arslan zupft mich am Ärmel und macht mich auf einen Priester aufmerksam, der mit erhobenen Armen eine verhüllte Truhe auf seinem Kopf trägt und uns entgegentanzt. Die Lade, die von einem leuchtend roten Brokatschirm beschattet wird, ist mit einem schwarzen Samttuch bedeckt, das mit einer weißen Taube mit ausgebreiteten Flügeln aus Silberfäden bestickt ist.
Ist das die Lade, von der Alessandra mir erzählt hat, das heilige Tabot? Wie verzaubert beobachte ich, dass Solomon vor der Lade zu tanzen beginnt. Das rhythmische Klatschen der Priester und das Schwenken der Gebetsstäbe feuert ihn an, bis er ausgelassen herumwirbelt.
›Da holte David die Lade Gottes mit Freuden in die Stadt Davids. Und er tanzte mit aller Kraft vor dem Herrn‹, denke ich und spreche im Stillen die Verse aus dem fünften Buch Samuel. ›So brachten David und das ganze Haus Israel die Lade des Herrn mit Jauchzen nach Jerusalem. Und sie stellten die Lade in die Mitte des Zeltes, das David für sie aufgeschlagen hatte. Und David brachte Brandopfer und Heilsopfer dar vor dem Herrn.‹
Im Innersten berührt frage ich mich, was dieses geheimnisvolle Tabot ist.
Solomon kommt zu mir herüber, schlägt schwungvoll seinen Samtmantel zurück, kniet nieder und hält meinen Steigbügel, während ich aus dem Sattel springe. Dann zieht er sich den weißen Schleier vom Gesicht, sodass ich den ›Ehrenmantel der Krieger‹ erkennen kann, der mit zwei über der Brust gekreuzten Tatzen an das Fell eines Löwen gemahnt. Auf dem Kopf trägt er die Kriegerkrone aus geflochtenem Löwenhaar. Solomon ergreift meine Hände, begrüßt mich auf Amharisch mit einem »Salam!« und küsst meine Hände. Ich gewähre ihm den Friedenskuss auf beide Wangen.
»Im Namen des Erwählten Gottes, des Königs der Könige und Gesalbten des Herrn danke ich dir für das sichere Geleit der Pilger aus Aksum und Lalibela durch das Reich des Sultans von Ägypten.« Seine weite Geste umfasst die äthiopischen Priester und Mönche, die er nach Jerusalem geführt hat. Die jährliche Pilgerfahrt zu Weihnachten oder Ostern über die Weihrauchstraße an Mekka vorbei nach Jeruschalajim ist für die Hunderte von christlichen Pilgern lebensgefährlich – ganz besonders, wenn zur selben Zeit Tausende von muslimischen Gläubigen nach Mekka pilgern. »Ich fühle mich geehrt, dass du meiner Einladung gefolgt bist, Emir.«
Sein Händedruck ist fest, sein Blick offen und sein Lächeln aufrichtig.
»Es ist mir eine Freude, Abetahun. Ich danke dir herzlich für die Einladung und …«, ich wende mich um und nicke, da Solomon dem Begrüßungsritual gemäß noch immer meine Hände festhält, in Richtung der Prozession der singenden und tanzenden Priester und Diakone, »… und für diesen großartigen Empfang, der eines Königs würdig ist.«
Solomon lächelt verschmitzt. »Du bist Vizekönig von Jerusalem, Yared. Warst du nicht heute Morgen auf dem Tempelberg? Hast du nicht mit Prinz Uthman im Felsendom
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