Der Gottesschrein
eigenes Kind! Nach all den Jahren?
»Was ist?« Uthman drückt mir noch ein Glas Aslan Sütü in die Hand. »Freust du dich nicht? Und ich dachte, du wünschst dir einen Erben.«
Ich kippe den Raki hinunter und hole tief Luft. »Ich bin jetzt einundvierzig, Uthman. In den letzten Jahren hatte ich etliche Affären, das weißt du.«
»O ja! Du hast wahrlich kein Keuschheitsgelübde abgelegt. Nicht einmal Arslan konnte mit dir mithalten.« Uthman grinst anzüglich. »Obwohl er sich nach Kräften bemüht hat.«
»Keine meiner Geliebten ist je von mir schwanger geworden«, erinnere ich ihn. »Ich kann keine Kinder zeugen.«
Er guckt mich an, als begreife er nicht, was ich da sage. David richtet sich auf seinem Schoß auf, schlägt die Krallen in seine Djellabiya und knabbert mit schräg gelegtem Kopf begeistert an der Goldborte. Uthman ist so bestürzt, dass er dem kleinen Rabauken nicht Einhalt gebietet.
»Ich werde nie eigene Kinder haben, Uthman. Deshalb will ich Elija mitnehmen.«
»W’Allah!«, flüstert er schwach. »Aber Yona …«
»Yona war nicht mein Sohn.«
Uthman starrt mich mit offenem Mund an. »Aber …«
»Sultan Muhammad war sein Vater. Mein Freund, der wie ein Bruder für mich war, hat Rebekka geschwängert. Während ich in Córdoba war, damit er mit dem Segen des Königs von Kastilien den Thron zurückerobern konnte.«
»Tut mir leid, das wusste ich nicht«, murmelt er fassungslos und streicht geistesabwesend über Davids Kopf. »O Gott, Yared! Wie muss das jetzt aussehen … als würde ich meine Schwester benutzen, um mit deiner Macht und deinem Einfluss als Wesir den Thron zu besteigen.«
»Uthman, was stand in der Nachricht, die du Jadiya gestern Mittag geschickt hast?«
»Yared!«, stöhnt er entsetzt. »Du glaubst nicht, dass Jadiya von dir schwanger ist, nicht wahr?«
· Alessandra ·
Kapitel 60
Vor dem Heiligen Grab in der Grabeskirche
3. Miyazya 6945, 20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
Ostermontag, 29. März 1445
Wenige Minuten vor elf Uhr abends
Woher kam das Knistern?
Der diffuse Lichtschein hinter dem Heiligen Grab ist noch düsterer geworden. Ist in der Kapelle der Kopten an der Rückseite des Grabes eine Kerze erloschen? Scheint so.
Über die unebenen und geborstenen Steinfliesen husche ich am Heiligen Grab entlang auf die andere Seite des Kuppelraums. Neben der Grabkammer des Joseph von Arimatia liegen die Kapellen der Kopten, Syrer und Äthiopier. Meine Schritte hallen durch die stille Basilika.
Weit und breit entdecke ich keinen Franziskaner. Wo sind die Wächter des Heiligen Grabes? Vermutlich in ihrem Konvent – die Komplet ist längst gesungen. Das nächste Stundengebet ist die Mitternachtsmesse.
Als ich an der Kapelle der Kopten vorbeihetze, sehe ich, dass eine der Kerzen erloschen ist. Der Docht glüht noch, und ein feiner Rauchfaden kringelt sich zur Kuppel empor.
Lautlos schleiche ich um das Heilige Grab herum und spähe zwischen den Säulen hindurch ins Seitenschiff mit dem Salbungsstein. Dort befindet sich das massive Portal, das seit der Schlüsselzeremonie bei Sonnenuntergang fest von außen verschlossen ist. Die beiden muslimischen Wächter, die den Schlüssel der Grabeskirche besitzen, steigen über eine Leiter zu dem erhöht angebrachten Schloss hinauf und verriegeln es. Dann wird die Leiter durch eine Klappe in die Grabeskirche geschoben, wo sie ein orthodoxer Mönch in Empfang nimmt und neben dem Portal abstellt. Das Tor wird erst am nächsten Morgen gegen vier Uhr wieder geöffnet.
Auf diesem Weg kann ich die Grabeskirche nicht verlassen, um zu Yared zu gelangen. Über das Dach jedoch schon!
Dann aber zögere ich. Ich werfe einen Blick in die äthiopische Kapelle, deren Wände mit Ikonen aus Ziegenleder geschmückt sind. Der Altar ist eine große Truhe aus verwittertem Holz. Sie ist mit einem weißen Altartuch bedeckt. Befindet sich darin das Tabot, das Solomon nach Jerusalem gebracht hat? Unschlüssig stehe ich am Eingang der Kapelle und betrachte die Truhe aus jahrhundertealtem Akazienholz.
Soll ich es wagen? Es ist ein Sakrileg!
Auf dem Altar liegen aufgeschlagen ein Evangeliar in Geez und ein Handkreuz aus ineinander verwobenen silbernen Ornamenten. Ich erkenne es wieder – vermutlich hat Gebre Christos es nach der letzten Messe hier vergessen. Hoffentlich erinnert er sich nicht ausgerechnet jetzt daran!
Geschwind räume ich das Evangeliar und das Kreuz vom Altar. Das Schloss der Truhe sieht schwieriger aus, als es ist. Ich ziehe
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