Der Gottesschrein
Einziger die Lade abnehmen könnte, ist noch in Jerusalem. Der ehrwürdige Gebre Christos wird erst in einigen Wochen nach Aksum zurückkehren, um das hohe Amt anzutreten.
Mitgerissen von der Menge, geschoben und gedrängt, hat der Kaiser endlich die Königsstelen erreicht, die gegenüber der Kathedrale in den Abendhimmel ragen. Hunderte Mönche empfangen die endlose Prozession der Tabotat, singen, tanzen und schwenken ihre Gebetsstäbe.
Der Platz vor der Kathedrale ist überfüllt – jeder will der Lade von Zion so nahe kommen wie möglich. Die Gläubigen drängen sich so dicht, dass dem Gesalbten Gottes, der vom Pferd gesprungen ist, ein Weg zum Portal gebahnt werden muss. Mehrere Bewaffnete drängen die Jubelnden zur Seite. Sie strecken ihre Hände aus, um den Kaiser zu berühren.
Schulter an Schulter stehen die Priester mit den verhüllten Tabotat auf dem Kopf auf den Stufen der Kathedrale, wo Gabriel und Mikael den Kaiser empfangen. Mikael begrüßt ihn mit den Worten aus dem Buch der Offenbarung. »›Gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids.‹«
»Nein, Abuna«, entgegnet der Gesalbte Gottes ernst, während zwei Diener niederknien, um die Riemen seiner Sandalen zu lösen. »Gesiegt hat Iyasus Christos.«
»Euer Majestät.« Gabriel weist zum Portal der Basilika. »Tretet ein in den Tempel Gottes.«
Der König der Könige rafft seine Gewänder, folgt Haile Selassie, der die heilige Lade trägt, über die Schwelle, durchschreitet die Vorhalle und betritt die fünfschiffige Basilika. Die schräg einfallenden Strahlen der Abendsonne lassen den aufgewirbelten Staub rotgolden glühen. Die Basilika scheint in einen mystischen Schleier aus Licht gehüllt.
Zara Yakob geht zur Ikonenwand, deren purpurner Vorhang zur Seite geschoben ist. Der nächste Saal, der Vorraum zum Maqdas, zum Allerheiligsten, ist von Butterlampen hell erleuchtet. Dort erwartet Haile Selassie den Kaiser und die beiden Patriarchen.
Zara Yakob kniet nieder, schlägt den Schleier zurück, der sein Gesicht verhüllt, und berührt die Schwelle des Allerheiligsten mit seiner Stirn und seinen Lippen. Nach einem gemurmelten Gebet schlägt er das Zeichen des Bundes über Stirn und Brust, erhebt sich und betritt das Maqdas, wo die Lade des Bundes neben dem aufgeschlagenen Matsahaf Kiddus, der Heiligen Schrift, auf dem Altar steht.
Während Haile Selassie ein Weihrauchgefäß schwenkt und das Allerheiligste mit Weihrauch und Myrrhe beräuchert, hebt Zara Yakob den Brokatstoff an, der das Manbar verhüllt, und schlägt ihn zurück. Zart streichen seine Finger über das jahrtausendealte zersplitternde Holz, über die goldenen Verzierungen und das siebte Siegel. Dann beugt er sich vor und küsst den Schrein.
Entschlossen öffnet er das letzte Siegel und hebt den Deckel des Manbars an. In dem Schrein liegt, in mehrere Schichten Brokatstoff gehüllt, das Tabota Tseyon, die Lade von Zion. Der Kaiser holt es heraus und stellt es vor das offene Manbar mit den sieben Siegeln. Sodann enthüllt er Schicht um Schicht das heilige Tabot. Zum Vorschein kommt ein kleiner Schrein aus massivem Gold. Nur eine goldene Zierleiste schmückt den schlichten Deckel.
Als Zara Yakob das Tabota Tseyon berührt, trifft ihn ein schmerzhafter Schlag. Erschrocken zuckt er zusammen. Während der stundenlangen Prozession haben die Stoffe, die den Schrein verhüllten, das Tabot aufgeladen.
Der Neguse Negest öffnet den Deckel des goldenen Schreins, der seit Menschengedenken versiegelt war, und blickt hinein. Im Inneren des Tabots liegen, wiederum in kostbare Stoffe gehüllt, die allerheiligsten Sellat Muse – die Tafeln des Moses.
Behutsam nimmt Zara Yakob ein Sellat heraus. Es ist anderthalb Ellen lang und eine Elle breit und wiegt schwer in seinen Händen. Bedächtig wickelt er die Tafel aus etlichen Schichten mit Goldstickereien verziertem Samt. Zum Vorschein kommt eine Ecke der Steintafel, die geheimnisvoll schimmert, wie ein weißer Opal. Mit dem Finger berührt Zara Yakob den warmen Stein und schiebt den schwarzen Samt ein wenig zur Seite, bis er ein eingraviertes Schriftzeichen ertasten kann.
Er kann es nicht lesen.
Denn wie ein göttliches Licht dringt ein greller Strahl der untergehenden Sonne ins Allerheiligste, direkt auf die Tafel.
Geblendet wendet Zara Yakob den Blick von der Steintafel und verhüllt das Sellat.
· Alessandra ·
Kapitel 61
In der äthiopischen Kapelle in der Grabeskirche
3. Miyazya 6945, 20. Dhu’l Hijja
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