Der Gottesschrein
rutsche ich drei oder vier Stufen weiter die Treppe hinunter. Sie endet in einem schmalen Raum, dessen Wände sich in der undurchdringlichen Dunkelheit verlieren. Ich taste mich zwei, drei, vier Schritte vorwärts.
Ein geheimer Gang? Wohin führt er?
Ein kühler Luftzug lässt mich innehalten.
Ich beginne zu zittern. Mein Herz pocht in meinen Ohren. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt.
Das Atmen fällt mir schwer.
Ist dort jemand?
· Yared ·
Kapitel 57
In Yareds Schlafzimmer in der Zitadelle
3. Miyazya 6945, 20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
Ostermontag, 29. März 1445
Zehn Uhr dreißig abends
Elija lässt mich nicht aus den Augen, während ich ihn zudecke. Seine Augen glitzern im Licht der Kerze, als er sich glücklich lächelnd in die Kissen kuschelt.
Ich verwuschele seine Locken. »Schlaf jetzt, Krümelchen.«
Trotz des Gesangs der Nachtigall höre ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehe mich um. Uthman lehnt lässig in der offenen Tür. Mit einer Karaffe kistallklarem Raki, einer Schale mit Schnee und zwei Gläsern. Er sieht aus, als habe er vor, sich mit mir zu betrinken.
»Haben wir etwas zu feiern?«, frage ich, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was das sein könnte. Heute Nachmittag bei Arslans Begräbnis war Uthman still und blass. Und jetzt?
»O ja«, orakelt er verschmitzt und winkt mich ungeduldig in mein Arbeitszimmer. Er wirkt aufgekratzt. »Na komm schon!«
»Ich bringe nur den Jungen ins Bett.« Dann scheuche ich Uthman aus meinem Schlafzimmer. »Und um deine nächste Frage zu beantworten: Meine Aslan Sütü nehme ich mit einer Handvoll Eis.«
»Wie du befiehlst, Dawadar … oh, bitte verzeih mir! … Wesir! « Grinsend deutet Uthman eine ehrfurchtsvolle Verbeugung an. »Nun komm, trödele nicht herum, Yared!«, drängt er. »Wir haben einiges zu besprechen.« Mit funkelnden Augen zieht er ab.
Ich beuge mich über Elija und küsse ihn zart auf die Stirn. Er verzieht das Gesicht, als mein Bart seine Nase kitzelt. »Schlaf gut, Krümelchen.«
»Du auch.«
Ich erhebe mich vom Bettrand und lösche die Kerze. Als ich zur offenen Tür gehe, fragt Elija: »Yared?«
»Ja?«
»Was ist ein Wesir?«
»Der mächtigste Mann im Reich. Gleich nach dem Sultan.«
»Bist du der Wesir?«
»Bis eben war ich’s noch nicht.«
»Aber Uthman hat dich …«
»Gute Nacht, Elija. Träum was Schönes.«
Er zögert, will noch etwas sagen, hält jedoch den Mund. »Gute Nacht, Yared«, nuschelt er nur und gähnt.
Ich schließe leise die Tür hinter mir.
Uthman hat zwei Gläser Raki eingeschenkt und es sich auf dem Diwan bequem gemacht. Der kleine David ist auf seinen Schoß gesprungen und lässt sich von ihm genüsslich schnurrend den Bauch kraulen, während er schmatzend auf dem kandierten Ingwerkonfekt herumkaut, das Uthman ihm gegeben hat. Als ich mich neben Uthman setze, guckt David neugierig hoch. Dann lässt er den Kopf zurücksinken, schließt die Augen und hält ganz still, während Uthman ihn streichelt. Der kleine Rabauke genießt es, derart verwöhnt zu werden!
Uthman reicht mir mein Glas. »Auf deine vollendete Hadj nach Mekka, Medinat an-Nabi und Al-Quds. Möge Allah dich segnen, Yared. Aber das tut er ja ohnehin über alle Maßen!«
Wir stürzen den Anisschnaps hinunter. Sofort schenkt Uthman die Gläser nach und füllt sie mit Schnee. Dann hebt er erneut sein Glas.
»Auf deinen Übertritt zum Islam, Yared! Du glaubst ja nicht, wie glücklich ich bin, dass du dich nach all den Jahren endlich dazu durchgerungen hast! Als Vater mich bat, dich nach Mekka zu begleiten, da habe ich ernsthaft bezweifelt, dass du jemals konvertieren würdest. Von wegen! Al-hamdu li-llah!«
»Uthman, ich bin nicht konvertiert. Das dritte Bekenntnis war nicht vollendet.«
Er zuckt mit den Schultern. »Was soll’s? Der Imam ist tot. Arslan kann nichts mehr bezeugen. Und ich werde im Namen Allahs beschwören, dass du drei Mal die Schahada gesprochen hast. Also bist du ein Muslim. Und darauf trinke ich.«
Nachdem wir zum zweiten Mal die Gläser geleert haben, fragt er: »Wo steckt eigentlich meine geliebte ›Schwägerin‹? In ihren Räumen ist sie nicht. Nach Arslans Begräbnis war sie plötzlich verschwunden.«
»Alessandra verabschiedet sich vom Patriarchen.«
»Habt ihr schon entschieden, wann ihr heiraten wollt?«
»Nein.«
»Na ja, nun eilt es ja auch nicht mehr.« Er winkt entspannt ab und füllt die Gläser zum dritten Mal. »Und wo willst du feiern? Im
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