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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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… nein, war unschätzbar wertvoll! Ich lasse ihn liegen. Er ist nicht mehr zu retten.
    Beklommen frage ich mich, wann dieser Geheimgang das letzte Mal benutzt wurde. Lässt sich die Tür am anderen Ende überhaupt öffnen?
    Ich gehe weiter.
    Unvermittelt enden die Steinquader. Der Korridor ist von nun an aus dem massiven Fels gehauen. Aus dem Felsen Golgata.

    Ein leises Geräusch hinter mir! Die Ratten? Oder Tristão?
    Ich bleibe stehen und lausche zwei, drei, vier verhaltene Atemzüge lang, dann setze ich meinen Weg so schnell wie möglich fort.
    Plötzlich schlägt mir ein ekelerregender Geruch entgegen und raubt mir den Atem. Ich ziehe meinen Schleier über Mund und Nase. Diesen süßlichen Gestank kenne ich. Es ist der Pesthauch von Tod und Verwesung.
    Auf den Stufen, die zur Grabeskirche hinaufführen, liegt eine Leiche. Die Ratten haben wenig mehr als die Knochen und ein paar Fetzen Fleisch übrig gelassen. Der schwarze Basilianerhabit ist zerfetzt. Das byzantinische Brustkreuz liegt zwei Schritte entfernt. Ich vermute, dass der Mönch seit zwei Tagen tot ist. Wahrscheinlich wurde er bei dem Kampf während der Zeremonie des Heiligen Feuers am Karsamstag schwer verletzt. Er floh in den Geheimgang. Geschwächt von einer lebensgefährlichen Wunde, stürzte er die Treppe hinab und starb. Ob durch das Schwert eines Muslims oder durch die Bisse der Ratten, lässt sich nicht mehr sagen.
    Gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfend, spreche ich ein Gebet für den Mönch. Doch es sind keine Augen mehr vorhanden, die ich hätte schließen können. Dann raffe ich den Saum meines Gewandes und steige über den verwesenden Leichnam hinweg die Stufen hinauf zur Grabeskirche.
    Dann stehe ich vor einer eisenbewehrten Tür.
    Sie hat von dieser Seite kein Schloss, sondern einen geheimen Mechanismus, der dem meiner Reisetruhe ähnelt. Ein muslimischer Handwerker muss ihn in die Tür eingebaut haben.
    Es ist ein auf die Tür aufgesetztes Kombinationsschloss aus Messing mit sechs kleinen Hebeln. Sie müssen in die richtigen Stellungen gedreht werden, die durch arabische Zahlen bezeichnet werden. Ein muslimischer Wissenschaftler hat dieses Tresorschloss im zwölften Jahrhundert erfunden. Wenn die Hebel in die richtige Position gedreht werden, liegen die Nuten des Schließzylinders übereinander, und die Sicherungsstifte können in die Nut eindringen, sodass sich die Tür öffnen lässt.
    Fragt sich nur, welche Kombination von sechs Zahlen die richtige ist. Ich versuche eine, die nur die wenigsten frommen Christen kennen. Karfreitag, der 3. April 33. Jesu Todestag.
    Der Tag entspricht nach byzantinischer Zählung – das Patriarchat Jerusalem gehört ja zur orthodoxen Kirche – dem 3. April 5534.
    Drei – vier – fünf – fünf – drei – vier.
    Leicht zu merken!
    Mit einem metallischen Knirschen öffnet sich der massive Riegel. Ich schiebe die Tür auf, husche hindurch und befinde mich in einem winzigen Raum mit drei Wänden. Dann schließe ich die schwere Geheimtür, die mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss fällt, und gehe zur Tür gegenüber. Sie ist nur angelehnt.
    Ich betrete das nördliche Seitenschiff der Grabeskirche. Geradeaus geht es zum Gefängnis Christi, zu einer kleinen Kapelle neben dem Chorumgang. Dieser führt zur Kapelle der heiligen Helena und zur Kreuzauffindungskapelle unterhalb des Golgatafelsens hinab. Rechts vor mir ist das Katholikon, das Hoheitsgebiet der Byzantiner. Ich husche zu zwei Säulen, zwischen denen ich den düsteren Kuppelraum der Basilika erkennen kann. Dann stehe ich vor dem Grab Jesu Christi, das von einem mystischen Licht erleuchtet wird.
    Zu Tode erschrocken zucke ich zusammen, als ein leises Knistern die tiefe Stille durchbricht.

· Yared ·
Kapitel 59
    In Yareds Arbeitszimmer in der Zitadelle
    3. Miyazya 6945, 20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
    Ostermontag, 29. März 1445
    Wenige Minuten vor elf Uhr abends

    »Ich werde Vater?«, frage ich fassungslos.
    Uthman drückt mir Jadiyas Brief in die Hand. »Lies selbst! Jadiya wollte dich bei deiner Rückkehr mit dieser Nachricht überraschen. Aber da der Sultan sich nun entschieden hat, dich nicht zum Dawadar, sondern zum Wesir zu ernennen, fürchtet sie, du könntest es von ihm erfahren, bevor sie es dir selbst sagen kann. Sie hätte so gern dein freudestrahlendes Gesicht gesehen, Yared! Sie ist so glücklich!«
    Ich starre auf Jadiyas Zeilen, ohne sie zu lesen.
    Ein Kind! Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Mein

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