Der Gottesschrein
meinen Dolch und hebele es auf. Mit einem Knirschen gibt es nach. Im letzten Augenblick kann ich es auffangen, bevor es zu Boden kracht.
Ich atme tief durch, hebe den Deckel der Altartruhe und werfe einen Blick hinein. Da ist das Tabot! Ich lehne den Deckel gegen die Rückwand der Kapelle, hebe die Lade heraus und stelle sie auf den Boden. Sie ist nicht schwer. Das Tabot ist mit einem schwarzen Samttuch verhüllt, das mit einer weißen Taube mit ausgebreiteten Flügeln bestickt ist.
Plötzlich höre ich schlurfende Schritte.
Ich halte den Atem an und lausche. Irgendjemand nähert sich dem Heiligen Grab! Ist Tristão mir gefolgt? Oder ist es Gebre Christos, der sein Handkreuz vermisst? Ich lösche meine Kerze. Es wird finster in der Kapelle. Lautlos ducke ich mich in den tiefen Schatten neben der offenen Altartruhe.
Das Schlurfen hört vor der koptischen Kapelle unvermittelt auf.
Ich krieche über die Steinfliesen, um einen Blick in den Kuppelraum zu werfen. Tatsächlich, ein koptischer Mönch in schwarzem Mantel und mit Kreuzen bestickter schwarzer Kapuze. Er nimmt die niedergebrannte Kerze aus dem Leuchter, steckt eine neue hinein und entzündet sie. Dann richtet er die Altargeräte für die bevorstehende Messe.
Mir bleibt nicht mehr viel Zeit!
Sobald er verschwunden ist, husche ich zur koptischen Kapelle, entzünde meine Kerze und haste zurück zum Tabot. Ich knie mich vor die Lade und befreie sie von dem schwarzen Samtüberzug mit der aufgestickten Taube.
Zum Vorschein kommt eine Truhe aus Holz. Ihre Maße entsprechen ungefähr denen des goldenen Schreins im Buch Exodus. In ihrer Schlichtheit erinnert sie jedoch mehr an die Lade der Templer im Vatikan.
Zart streiche ich mit den Fingern über die Kreuze an den Seiten. Dann hebe ich vorsichtig den Deckel an und werfe einen Blick hinein.
· Intermezzo ·
In der Nähe von Aksum
3. Miyazya 6945
Am späten Nachmittag
Im Triumph kehrt der Erwählte Gottes mit der Lade Zions zurück nach Aksum, wo ihm ein überwältigender Empfang bereitet wird. Die aksumitischen Mönche und Priester haben während der ganzen Nacht gefastet und ausgelassen die Psalmen gesungen und danach die verhüllten Tabotat aus allen Kirchen der Stadt geholt. Begleitet von einer Menschenmenge, die beständig größer wurde, haben sie die Schreine in einer feierlichen Prozession an den Königsstelen vorbei in das Tal oberhalb von Aksum getragen, wo sich das Bad der Königin von Saba befindet. Im Licht der untergehenden Sonne schimmern die Algen in tiefem Smaragdgrün.
Singend und um die Tabotat herumtanzend, empfangen die Gläubigen den Kaiser, der aus der Schlacht gegen Sultan Bedlay zurückkehrt. Begeistert feiern sie den Sieg von Iyasus Christos über die Macht des Satans und dessen Propheten. Den Triumph des wahren Glaubens.
Der Gesalbte blinzelt, geblendet von der Pracht. Im grellen Sonnenlicht des späten Nachmittags gleißen die Stickereien der Brokatschirme und die goldenen Kaiserkronen der Diakone. Zum tiefen Dröhnen der Trommeln und dem silberhellen Klang der Sistren tanzen die weiß gekleideten Mönche einen langsamen Schreittanz. Ekstatische Jubelrufe und schrilles Trillern wehen dem Gesalbten Gottes entgegen. Der durchdringende Schall der Posaunen übertönt den fernen Widerhall der großen Klangsteine der Kirchen, die überall in der Stadt geschlagen werden.
Die Prozession der allerheiligsten Lade zurück in die Kathedrale von Maryam Tseyon kommt nur langsam voran. Immer wieder muss Zara Yakob sein unruhig tänzelndes Pferd zügeln, weil kleine Kinder mit Olivenzweigen um ihn herumspringen und mit der ausgestreckten Hand sein Pferd berühren. Kichernd stieben sie in alle Richtungen davon und verschwinden in der Menge. Mönche werfen sich vor dem Tabot des Gottesbundes ehrerbietig zu Boden, um ein Dankgebet zu sprechen. Angefeuert von den Rufen der Gläubigen, tanzen andere wie entrückt zum rhythmischen Klang der Trommeln, Flöten und Sistren, wie einst König David, als er die Lade nach Jerusalem holte. Als einer der Tänzer in Ekstase zusammenbricht und wie tot liegen bleibt, heben ihn die Umstehenden auf und tragen ihn zur Seite, wo sie ihn vorsichtig ins Gras legen. Sofort drängen neue Tänzer heran, die verzückt herumwirbelnd seinen Platz einnehmen.
Gebannt von der Macht des Augenblicks, blickt sich Zara Yakob um. Haile Selassie, der Wächter der Lade, der das schwere Tabot seit Stunden auf dem Kopf trägt, wirkt erschöpft. Doch der Nebura-Ed, der ihm als
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