Der Gottesschrein
sich dort unsere Spur. Mein Abschiedsbrief an Gebre Christos enthält keinen Hinweis, wohin wir verschwunden sind. Nein, es ist nicht Uthman, den ich fürchte. Sondern Tristão.«
»Er kennt den Weg durch das Labyrinth.«
»Und er kennt die Baruch-Apokalypse, die Mar Abdul Masih ihm offenbar vorgelesen hat, bevor er sie übersetzte. Er weiß von dem Versteck der Bundeslade unter dem Allerheiligsten des Tempels.«
Ich atme tief durch.
»Na komm, lass uns gehen«, flüstert sie, tastet nach meiner Hand und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Sie lässt mich erst los, als wir den Einstieg zum Wartungsschacht des Aquädukts unterhalb des Kettentors erreicht haben. Das Tor, das wenige Schritte neben der Klagemauer auf den Tempelberg führt, ist geschlossen. Der Haram ash-Sharif wird von meinen Mamelucken bewacht.
Während Alessandra die mitgebrachte Fackel entzündet, sehe ich hinüber zur Klagemauer, die rechts vor uns in den Nachthimmel aufragt und im Feuerschein der Zitadelle zu glühen scheint.
Die römische Wasserleitung, die Wasser von den Salomonischen Teichen zum Tempelberg leitet, ist Teil eines großartigen Viadukts, das zur Zeit von König Herodes ein tiefes Tal überspannte und den Tempelberg mit dem Königspalast verband. Die Ausmaße der Brücke, die wie die Klagemauer zur Hälfte im Boden verschüttet liegt, lassen mich erahnen, wie mächtig einst der herodianische Komplex von Tempel, Palast und Zitadelle war. Auf diesem versunkenen Viadukt verläuft nun die Kettenstraße bis zum Kettentor.
Sie bedeutet mir, ihr zu folgen.
Durch den engen Wartungsschacht erreichen wir ein gemauertes Bogengewölbe, das die ganze Breite des Viadukts einnimmt. Die Bögen, die mit Quadersteinen vermauert sind, waren in der Antike offen. Wir müssen durch ein Tor, einen schmalen Gang entlang, eine enge, gewundene Treppe hinunter, dann haben wir den Zugang zum Aquädukt erreicht.
Die senkrechten Wände der Wasserleitung sind glatt poliert, die flache Decke ist so hoch, dass wir nur die Schultern einziehen und den Kopf senken müssen, um durch das knietiefe Wasser zu stapfen.
Alessandra reicht mir die Fackel und folgt mir durch den engen Korridor in den Tempelberg. Hinter der Klagemauer wird die Wasserrinne aus Stein zu einem gewölbten Kanal aus gegossener Bronze. Wir durchqueren den Teil des Tempelbergs, den Herodes zwischen dem Felsen Morija und der gewaltigen Stützmauer mit Schutt und Erde auffüllen ließ, um Salomos Tempelplattform anzuheben und zu erweitern. Der Korridor biegt schräg nach rechts ab, in Richtung des Brunnens des Kelches vor der Al-Aqsa. Etliche Ellen vor uns zweigen zwei Wartungsgänge ab: drei Stufen führen hinauf in schmale Korridore, die sich links und rechts in der Finsternis verlieren.
Mit dem aufgeschlagenen Notizbuch bleibt Alessandra neben mir stehen. »Die Karte der Templer ist sehr genau.« Sie deutet auf den Gang, der nach Süden führt. »Dieser Korridor endet unterhalb des alten Templerpalastes und verzweigt sich bis dahin zwei- oder dreimal. Einer der Gänge führt zu der Zisterne, in deren Nähe ich die Tempelbibliothek gefunden habe.«
»Und der andere?«
»Führt am Felsendom vorbei nach Norden.«
»Wohin?«
»Keine Ahnung.« Sie klappt das Büchlein zu und steckt es wieder ein. »Lass uns weitergehen. Da vorn ist eine kleine Höhle, siehst du? Dort endet die Bronzeverkleidung – dahinter ist die Wasserleitung aus dem Fels Morija geschlagen.«
Kurz darauf haben wir die Grotte erreicht. Alessandra hockt sich auf eine trockene Felsbank, die aus dem knietiefen Wasser ragt, zieht fröstelnd die Beine an und legt ihre Arme um die angezogenen Knie. Ihr Lächeln wirkt maskenhaft. Bestimmt hat sie Schmerzen.
Ich setze mich neben sie, lege meinen Arm um ihre Schultern und ziehe sie an mich, um sie zu küssen. »Sag mal, was hältst du davon, wenn du dich ein bisschen ausruhst, während ich den Gang erforsche, der, wenn man den Templern Glauben schenkt, zur Halle der Cherubim unterhalb des Felsendoms führt? Wenn ich mich davon überzeugt habe, dass er frei ist, komme ich zurück und hole dich.«
Sie zögert, wendet verzagt den Blick ab und starrt in die Finsternis. Schließlich atmet sie tief durch und nickt resigniert. Ich ahne, wie schwer es ihr fällt, ihre Schwäche einzugestehen. Sie ist so erschöpft, dass sie mit den Tränen ringt.
Ich küsse sie zärtlich.
Dann stehe ich auf und nehme die Fackel. Sie zieht einen Kerzenstummel aus der Zunderdose an ihrem Gürtel und
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