Der Gottesschrein
menschliche Fackel verwandeln. Scharfkantige Steinsplitter spritzen in alle Richtungen.
»Alles in Ordnung?«, keucht Yared, als er aufspringt und mich auf die Beine zieht.
»Ja.«
»Dann weiter!«
Durch den Innenhof stürmen wir zur Westmauer, wo sich nur wenige Kriegssklaven befinden – der Angriff erfolgt von Osten. Wir stolpern die Treppe hinauf zum verlassenen Wehrgang, den wir in gebeugter Haltung in Richtung der Moschee an der Südwestecke der Zitadelle entlanghasten. Die tiefen Schatten, die der lodernde Feuerschein im Hof wirft, und der dichte Rauch geben uns Deckung. Als wir das Dach der Moschee erreichen, bleibt Yared stehen und sieht sich um.
Weit und breit kein Mamelucke.
Yareds gedankenvoller Blick fliegt zurück zum Davidsturm. Zu Uthman, der wie ein Bruder für ihn war. Und zu dem Leben mit Jadiya und seinem ungeborenen Kind, das Yared hinter sich zurücklässt, wenn er mit mir flieht.
Ich drücke seine Hand. Er schaut mich an. Dann küsst er mich. »Komm!«
Über das Dach der Moschee folge ich ihm zur Südwestecke der Zitadelle. Yared und Benyamin lehnen sich über die Zinnen, um zur Residenz der Kreuzfahrerkönige hinüberzusehen – sie ist nur wenige Schritte entfernt, jenseits des tiefen Festungsgrabens. Benyamin deutet auf die vorkragenden Pechnasen am südlichen Wehrturm, von dessen Brustwehr Yareds Mamelucken Brandpfeile auf die Angreifer im armenischen Viertel schießen.
Yared mustert die Wehrerker und nickt. »So machen wir’s!«
»Na, dann los!« Benyamin nimmt Elijas Hand und stürmt zum Turm, dessen Pforte nicht bewacht wird. Die Kriegssklaven auf den Zinnen beachten uns nicht.
Nacheinander huschen wir in den Turm. Yared verriegelt die Tür zum Wehrgang, während Benyamin das mitgebrachte Seil verknotet und durch die Pechnase, die direkt neben der Festungsmauer nach Westen weist, hinabwirft. Dann tritt er einen Schritt zurück.
»Wer zuerst?«, fragt er.
»Du«, entscheidet Yared. »Dann Alessandra und Elija. Ich komme nach.«
»Wie du willst.« Benyamin ergreift das Seil mit beiden Händen, schiebt sich rückwärts in die schmale Pechnase und klettert am Seil hinunter. Ich beuge mich über das Gussloch, kann ihn in den tiefen Schatten neben der Festungsmauer jedoch nicht erkennen.
Yared drängt sich neben mich, um durch das schmale Loch zu spähen. Ich spüre seinen Atem auf meinem Gesicht – er hat Raki getrunken. Und nicht nur einen. »Siehst du ihn?«
»Nein.«
»Er wird sich umsehen, bevor er uns das Signal gibt, ihm zu folgen.«
Ich nicke.
Elija zupft an meinem Ärmel. »Ich hab Angst.«
»Sei ganz ruhig, Mäuschen. Bald sind wir in Sicherheit.«
»Ich freue mich auf Rom«, nuschelt er in weinerlichem Ton.
»Ich auch. Und wie.«
Durch die Pechnase luge ich nach unten. Neben der Festungsmauer glimmt ein Zunder auf, der eine winkende Hand beleuchtet. Benyamin signalisiert: Alles in Ordnung! Dann verlischt das Glimmen, das kaum heller ist als ein Glühwürmchen.
»Komm, Elija. Du bist dran.« Während Yared das Seil hochzieht, schiebe ich den Jungen zum schräg abwärts führenden Gussloch, das mit getrocknetem Pech verklebt ist. Yared verknotet das Seilende um Elijahs Brust. »Halt dich gut fest, auch wenn die verletzte Hand wehtut. Ja, genau so. Und jetzt ab mit dir. Benyamin wartet unten auf dich.« Elija verschwindet durch den engen Spalt, und Yared lässt ihn am Seil hinab in die Tiefe.
Sobald Benyamin den Knoten gelöst hat, zieht Yared das Seil wieder hoch. »Jetzt du.«
Bald darauf hasten wir vier an der Außenmauer entlang zur Moschee, die über uns in den feurig glühenden Nachthimmel aufragt. Im Innenhof der Zitadelle brennt es noch immer. Bei den Ställen der Kreuzfahrer biegen wir um die Ecke. Vor uns ragt der wuchtige Nordwestturm auf. Jenseits des Festungsgrabens führt das verfallene Jaffator in die Stadt – dahinter beginnt die Davidstraße.
»Tughan greift von der anderen Seite aus an, weil er hier keine Munition für seine Mandjaniks findet«, flüstert Yared, während er über die äußere Wehrmauer in die nächtliche Finsternis späht. »Während der Kreuzzüge wurden im Umkreis von mehreren Meilen sämtliche Steine, die als Geschosse verwendet werden konnten, eingesammelt. Und alle Bäume gefällt. Dort draußen ist keiner seiner Mamelucken.«
»Lass uns verschwinden!«, dränge ich.
»Und wohin?«, fragt Benyamin.
»Zur Grabeskirche.« Ich berichte, was ich in der Bibliothek des Patriarchats über Abu Salihs Gottesschrein
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