Der Gottesschrein
zu lassen!
Der Emir fürchtet, dass ich ihm als Vizekönig nachfolgen werde, sobald ich mich zum Islam bekannt habe. Und dass Uthman mir die vom Sultan gesiegelte Ernennungsurkunde heute Mittag vor dem Freitagsgebet in der Al-Aqsa überreichen wird, um mich vor allen Gläubigen zum Herrn von Jeruschalajim auszurufen. Es ist die Nacht meiner Entscheidung – Tughan muss handeln!
Der Wind weht den Protestschrei eines widerspenstigen Esels aus der Gasse unterhalb der Zitadelle zu mir herauf. Und einen unterdrückten tscherkessischen Fluch.
Ich lehne mich über die Brüstung und spähe hinunter zum Wehrgraben. Zwei Schatten huschen durch das Portal über die befestigte Zugbrücke zu einem dritten Mann mit einem Eselskarren. Ihre Kettenhemden und Helme schimmern im Licht der Sterne. So also will Tughan meine Leiche loswerden – auf einem Müllkarren!
Hinter mir knackt ein Stück Holz, als der Attentäter in der Finsternis einen abgerissenen Myrtenzweig zertritt.
Er bleibt stehen.
In der Stille zwischen den aufbrausenden Windböen kann ich seinen Atem hören.
Ein greller Blitz zuckt über den Himmel, und ein gewaltiger Donner erschüttert Jeruschalajim. Ich wende mich halb um, als blickte ich empor zum sturmdurchtosten Himmel.
Das unablässige Flackern der Blitze und die glühenden Wolken tauchen den Garten in ein geheimnisvolles Licht. Im Schatten der zinnenbewehrten Nordmauer, keine zehn Schritte entfernt, verharrt der Hashishin mit dem erhobenen Schwert.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie sich von der Treppe ein zweiter Schatten nähert.
Zwei Attentäter?
In seiner Hand funkelt silbern eine Klinge. Doch er ist nicht von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt wie der andere, sondern trägt, wie ich selbst, einen weiten Mantel aus Seide und Goldbrokat, der im Licht der Sterne glitzert. Sultan Jaqmaq hat mir das kostbare Gewand geschenkt, bevor ich vor einigen Wochen nach Mekka abgereist bin, um dort …
Lautlos huscht der schwarze Schatten einen Schritt näher.
Dann noch einen.
Unterhalb des Turms iaht der Esel laut und durchdringend.
Ich wende mich ab, um wieder zum Tempelberg hinüberzublicken, ziehe unauffällig meinen Dolch und verberge ihn unter dem weiten Seidenmantel. Mein Herz rast. Die Angst jagt mir einen Schauer über den Rücken.
Wieder knistert ein Myrtenzweig. Er ist schon ganz nah.
Mit erhobener Klinge stürzt sich der Attentäter auf mich. »Im Namen Allahs! Stirb, du Kafir, du gottloser Jude!«
· Alessandra ·
Kapitel 3
In den Ställen Salomos im Tempelberg
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Eine halbe Stunde nach Mitternacht
Tayeb zieht den Schleier vom Gesicht und lauscht mit geneigtem Kopf.
»Der Assassino?«, wispere ich atemlos.
Mein Freund hebt die Hand und gebietet mir zu schweigen, denn das Echo meiner geflüsterten Worte hallt durch das weite Gewölbe.
Totenstille.
Dann ein leises Donnergrollen.
Erleichtert atme ich auf.
Keine Schritte auf der Treppe zur Moschee!
Ich folge Tayeb zum Ende der Halle. Durch einen Durchgang betreten wir den nächsten Saal, der sich von einem zweiten Portal in der Südwand weit in die Finsternis des Tempelbergs erstreckt. Auch dieses Tor hat Sultan Salah ad-Din zumauern lassen.
Tayeb kniet sich vor ein Loch im Boden, lässt das Tau von der Schulter gleiten, beugt sich vor und lugt mit der Fackel in der Hand hinunter in die schwarze Tiefe. Der Steinboden ist vermutlich während eines Erdbebens gerissen und der zerborstene Quader in den Gang darunter gestürzt. An diesem schmalen Spalt mussten wir gestern aufgeben, weil wir keine Seile mitgenommen hatten.
»Nichts zu erkennen.« Tayeb rutscht zur Seite, als ich mich neben ihn hocke. »Das Licht der Fackel reicht nicht aus, um … Warte! Da schimmert etwas. Auf dem Boden des Ganges. Siehst du?«
Ich blinzele in die Finsternis. »Was ist das?«
»Eine römische Münze. Erstes Jahrhundert. Mit dem Bildnis von Kaiser Tiberius«, frotzelt Tayeb und richtet sich auf. »Ganz sicher eine der Münzen, die zu Boden fielen, als Jesus im Tempelvorhof die Tische der Geldwechsler umstieß. Der Regen hat sie in diesen Gang gespült.«
Ich lache herzlich. »Ich will sie mir ansehen.«
»Dachte ich’s mir doch.«
Tayeb wickelt das Seil ab und verknotet es an einem der Pfeiler, die das Gewölbe unterhalb der Al-Aqsa stützen. Mit beiden Händen ergreife ich es, schiebe mich durch den engen Spalt und krieche in den zwei Ellen hohen Gang, der einige Schritte nach Süden
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