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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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holte tief Luft. »Wie alt bist du? Erst einundvierzig! Was könntest du als Messias noch alles erreichen!«
    Erregt sprang er auf und rannte zur Tür des Gemachs, um sie wie jedes Jahr am Sederabend weit zu öffnen für den Propheten Elija. Als letzter Prophet vor dem Tag der Erlösung im Reich Gottes soll er zur Umkehr aufrufen und das Kommen des endzeitlichen Messias ankündigen.
    Ungestüm riss er die Tür auf, aber dort stand kein Elija.
    »Sei der Messias, Yared!«, forderte Benyamin. »Sei der Messias, auf den wir Juden schon so lange warten!«

    Er hat recht, besinne ich mich, während ich mich gegen die Zinnen lehne und zum Tempelberg hinübersehe. Ich kann wie ein König herrschen, Israel neu erschaffen und meinem Volk die ersehnte Freiheit schenken. Doch um welchen Preis! Ich muss alles aufgeben, was mich in den letzten Jahren am Leben gehalten hat. Ich werde kein Jude mehr sein.
    Vom Ölberg fegt eine Sturmbö über Jeruschalajim und reißt an meiner Djellabiya. Der stille Garten hinter mir erwacht zum Leben, als sich der Wind in den Myrtenzweigen verfängt.
    Der kleine Lustgarten erinnert mich an meinen Palast in Gharnata. Vom flachen Dach hatte ich einen unvergesslichen Blick auf den grünen Hügel der Alhambra, die im goldenen Licht des Sonnenunterganges tiefrot glühte. Dahinter schimmerten die schneebedeckten Gipfel. Auf der anderen Seite lag das Fruchtland mit den Granatapfelbäumen, deren erotisch-sinnliche Früchte einer spanischen Legende nach der Stadt ihren Namen gaben. Granada – Stadt der Granatäpfel.
    Trotz allem, was damals zwischen Sultan Muhammad und mir geschah, trotz des blutigen Massakers an meiner ganzen Familie, dem ich nur mit knapper Not entkommen konnte, trotz Muhammads Verrat und meiner überstürzten Flucht, sehne ich mich zurück nach Gharnata. Nach den unbeschwerten Tagen einer glücklichen Kindheit im Haus meines Vaters, Netanya ben Yona Ibn Shaprut.
    Ich bin der letzte Spross einer angesehenen, jahrhundertealten Dynastie von Rabbinen, die wie mein berühmter Vorfahr Chasdai Ibn Shaprut den Kalifen von Qurtuba und den Sultanen von Gharnata als Berater und Wesire gedient haben. Die Machtkämpfe der Nasriden, die sich gegenseitig in ihrem Blut ertränken, um für einige Monate in der Alhambra zu herrschen, und die Reconquista, die Al-Andalus in Fetzen reißt, haben alles zerstört.
    ›Als Feinde des wahren Glaubens sollte man die Juden auf Schiffe laden und auf dem offenen Meer ertränken‹ – diesen Spruch von Giovanni da Capestrano, dem Inquisitor von Papst Eugenius, habe ich als Gesandter von Sultan Muhammad am Hof von König Juan von Kastilien gehört. Mit den Mauren haben diese fanatischen Anhänger des jüdischen Bergpredigers, der sagte: ›Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen‹, vermutlich nichts anderes im Sinn als Taufe oder Tod!
    Tragisches, blutendes, sterbendes Gharnata.
    Eine Windbö fegt durch den Garten und reißt mich aus meinen traurigen Erinnerungen. Ich muss mich besinnen. Und mich endlich entscheiden …
    Blätter rauschen. Zweige knistern.
    Und war da nicht noch ein anderes Geräusch?
    Nur wenige Schritte entfernt, an der Südecke der Plattform, befindet sich ein Taubenschlag. Ist eine Brieftaube mit einer Nachricht des Sultans für mich aus Al-Kahira eingetroffen? Mit angehaltenem Atem horche ich in die Stille.
    Einen Augenblick lang schweigt der Wind.
    Von fern höre ich die Geräusche des Gelages, die feurige Trommel- und Flötenmusik der tscherkessischen Musiker, das ausgelassene Gejohle, das vermutlich den herumwirbelnden Tänzerinnen gilt, und das dröhnende Gelächter. Die Mamelucken sind längst sturzbetrunken.
    In den Dattelpalmen im armenischen Viertel zu meinen Füßen singen die Zikaden. Die Tauben sind ruhig.
    Dann höre ich leise Schritte auf der Treppe, ein kaum vernehmbares Rascheln, ein Knistern der Myrtenzweige, nicht weit entfernt. Irgendjemand nähert sich mir von hinten, und es ist gewiss kein Diener mit einem Becher Wein!
    Ich drehe mich nicht um, denn ich will den Attentäter nicht warnen, dass ich ihn bemerkt habe.
    Mein Herz pocht, und das heiße Gefühl drohender Gefahr pulsiert durch meine Adern. Ich spanne meine Muskeln an und lasse meinen Blick hinüber zur Grabeskirche schweifen.
    Hat der Hashishin sein Schwert schon gezogen, als er die Plattform des Davidsturms betrat? Wie sehr muss Tughan mich fürchten, wenn er es wagt, das Gebot der Gastfreundschaft zu brechen und mich in seiner Residenz ermorden

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