Der Gottesschrein
Deshalb würde ich heute nur zu gern aus Al-Kahira fortgehen.«
»Und wohin?«
»Nach Israel, ins Gelobte Land.«
»Wozu?«
» Wozu? Ich will endlich frei sein!«
Erstaunt hob ich die Augenbrauen. »Bist du denn in Jeruschalajim freier als irgendwo sonst auf der Welt?«
»Ja!«
Ich lache vergnügt. »Benyamin, du bist erst seit wenigen Stunden in dieser Stadt und leidest bereits an akuter ›Hierosolymitis‹.«
»An was? «
»Eine Geisteskrankheit, ein religiöser Wahn, der sich seit Jahrtausenden in Jeruschalajim ausbreitet und Juden, Christen und Muslime gleichermaßen befällt. Vor allem in der Nähe des Tempelbergs und der Via Dolorosa. Die Symptome: Fanatismus, Gewalt, der Glaube, Gottes Willen zu tun, und Visionen, die an Irrsinn grenzen. Manche Menschen halten sich für gottgesandte Propheten oder den endzeitlichen Messias. Die Krankheit ist nahezu unheilbar und endet meist tödlich.«
» ¡Por Dios! Du weißt genau, was ich mit Freiheit meine! Ich will Benyamin ben Yoel Halevi sein, nicht der ›verdammte Gottesmörder‹, nicht der ›verfluchte Ungläubige‹, nicht der Dhimmi, dem man im Islam die Gnade gewährt, weiterleben zu dürfen. Ich will ein Mensch sein, der die Mizwot hält, die Gott Moses gab, die Zehn Gebote, die für alle gelten, für Juden, Christen und Muslime, und die doch von allen missachtet werden. Ich bin ein Mensch, der sich nach Liebe und Geborgenheit sehnt. Ein Mensch, der im Land seiner Väter endlich in Frieden leben will. Glaubst du, dass Gott mir nach allem, was ich in den letzten Jahren erlitten habe, diese Gnade gewährt?« Benyamin klang verbittert, und ich konnte es ihm nicht verdenken.
Als ich immer noch nicht reagierte, hob er erneut seinen Becher und kippte mit einem »¡Salud!« den Wein hinunter. Dann sang er den Psalm des Sederabends:
»Als Israel aus Ägypten zog, da wurde Juda sein Heiligtum und Israel sein Reich.«
Den Becher stellte er so schwungvoll auf den Boden, dass der Rotwein über den Rand schwappte.
»Führe uns in die Freiheit, Yared, Prinz von Ägypten, und schenke uns den lang ersehnten Frieden!«, forderte Benyamin eindringlich und kramte gleich noch einen weiteren Psalm aus seinem schier unerschöpflichen Vorrat von Weisheitssprüchen und Prophezeiungen hervor. Mit Thora und Talmud kann ich als schriftgelehrter Rabbi – wie die Christen mit den Evangelien und die Muslime mit den Suren des Propheten – jede Vision rechtfertigen, jeden vorgeblich von Gott inspirierten Wahn.
»An den Strömen Babylons, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Wie sollten wir das Lied des Herrn singen auf fremder Erde!«, rezitierte Benyamin den Psalm zu pathetisch, zu selbstbemitleidend und zu wenig würdevoll, wie ich fand. Denn die Hoffnung der Juden, dass Gott sich irgendwann seines auserwählten Volkes erbarmen könnte, lebt immer weiter, während wir gedemütigt, misshandelt, unseres Glaubens, unseres Besitzes und unserer Rechte als Menschen beraubt, vertrieben und ermordet werden. Oder auf christlichen Scheiterhaufen brennen, die mit unseren heiligen Büchern entzündet wurden.
»Das Babylonische Exil ist noch nicht beendet, Yared!«, beschwor mich Benyamin sehr eindringlich. »Babylon ist überall – in Granada und Florenz, Konstantinopolis und Köln, Bagdad, Isfahan und Sanaa wünschen wir uns am Sederabend des Pessachfestes: ›Und nächstes Jahr in Jeruschalajim!‹
Der Tempel ist zerstört, und Jeruschalajim ist verloren. Nur unsere Sehnsucht nach Israel und unsere Hoffnung auf Freiheit sind auch nach eintausendvierhundert Jahren ungebrochen. Führe uns zurück nach Jeruschalajim! Ins Reich Davids und Salomos, den souveränen Staat Israel, von dem dein berühmter Vorfahr Chasdai Ibn Shaprut, der Vertraute des Kalifen von Córdoba, nur zu träumen wagte – du kannst ihn neu erschaffen.
Das Reich, das du seit Jahren suchst, wo Juden in Frieden und Freiheit leben und sich selbst regieren können, gibt es nicht.« Benyamin beugte sich vor und legte mir beschwörend eine Hand auf den Arm. »Erschaffe du es, Yared! In Israel. In Jeruschalajim. Hier und jetzt, am Pessachfest! Gott hat dich auserw…«
»O ja, er hat mich auserwählt: zum Leiden!«, begehrte ich auf. Verbittert. Zornig. »Jahwe ist ein grausamer und unbarmherziger Gott. Den Bund, den er mit Moses geschlossen hat, hat er mit mir gebrochen. Er hat mich verraten! In Gharnata hat er zugelassen, dass die Muslime in einem furchtbaren Massaker meinen Vater ermordeten, meine
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