Der Gottesschrein
Großmeister einen seiner Ordensritter in geheimer Mission nach Rom geschickt, um herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen den Templern und Preste João, dem Priesterkönig Johannes, gab«, offenbarte ich dem Papst. »Wolfram von Eschenbachs Gralslegende legt diese Vermutung nahe.«
»Wolfram von Eschenbach?«
»Er hat den Parzival verfasst, neben der Heiligen Schrift vermutlich das meistgelesene Buch unserer Zeit.«
»Ich muss gestehen: Den Gralsroman habe ich nie gelesen. Ich weiß nur, dass der Ritter Parzival aufbricht, um den Gral zu suchen. Er findet ihn in der Gralsburg Munsalvaesche und wird am Ende Gralskönig.«
»So ist es. In Wolframs Parzival bewachen Tempelritter den Heiligen Gral«, erklärte ich ihm. »Die Gralsburg Munsalvaesche erinnert an den Palast, den der Priesterkönig in seinem Brief an den byzantinischen Kaiser beschrieben hat. Und der Priesterkönig Johannes ist der Sohn von Parzivals Bruder, dem heidnischen Ritter Feirefiz, und der Hüterin des Grals.«
»Aber was hat denn nun Wolframs Priesterkönig mit den Erben der Templer zu tun?«
»Wolframs Gralslegende ist ein unentwirrbares Geflecht aus Fakten und Fiktion. Ein großartiger Mythos! Doch ist er auch wahr?«, fragte ich mich. »Eines ist gewiss: Der Großmeister entstammt derselben Familie wie Wolframs Parzival.«
»Der Großmeister? Ihr meint Prinz Henrique!«, staunte er.
»Dom Henrique de Aviz, der Infante von Portugal. Durch seine Mutter ist der Prinz mit der Familie Anjou-Plantagenet verwandt, der auch der Kreuzfahrer Richard Löwenherz entstammte. Wolfram von Eschenbachs Gralskönig Parzival und dessen Bruder Feirefiz kommen aus ebendieser Familie. Wie auch Feirefiz’ Sohn, der Priesterkönig Johannes.«
Gespannt wartete ich, ob er mir durch dieses Labyrinth von Rätseln folgen konnte. Eugenius rutschte auf seinem Sitz herum, als säße er auf glühenden Kohlen. »Und weiter?«, drängte er ungeduldig.
»Im Geheimarchiv habe ich in den Akten von meinem Cousin Papst Martin das Protokoll einer Papstaudienz entdeckt. Zwei Kardinäle, Pierre de Foix und Guillaume Fillastre, wohnten vor siebzehn Jahren in Valencia dem Empfang der Botschafter des Priesterkönigs Johannes bei König Alfonso von Aragón bei – der übrigens der Schwager von Dom Henrique ist. Der Großmeister des Christusordens weiß also, was damals in Valencia geschehen ist. Nach ihrer Rückkehr nach Rom haben die Kardinäle Papst Martin berichtet.«
»Eine Delegation des Priesterkönigs war bei Alfonso von Aragón?«, fragte er nach. »Das wird ja immer mysteriöser.«
»Beide Kardinallegaten haben den Priesterkönig als Sohn Davids bezeichnet, als gesalbten König der Könige, Besitzer der Tafeln des Gesetzes und Inhaber von Salomos Thron«, fasste ich zusammen. »Sie berichteten Papst Martin über die Korrespondenz des Königs von Aragón mit dem Priesterkönig und dessen Pläne einer dynastischen Verbindung beider Reiche. Der Priesterkönig wollte die Infantin Doña Juana heiraten, der Infant Don Pedro sollte die Tochter des Priesterkönigs ehelichen.«
»Heilige Maria Mutter Gottes! Das ist ja unglaublich!«
»Es wird noch besser! Die Verhandlungen über das Bündnis des Priesterkönigs mit dem König von Aragón sind vor siebzehn Jahren ausgerechnet in Valencia geführt worden, wo in der Kathedrale der Santo Cáliz, der Heilige Gral, verwahrt wird. Das ist nicht der geheimnisvolle Stein ›Lapis ex coelis‹, den Wolfram von Eschenbach im Parzival beschreibt – der Stein mit göttlicher Macht und einer wunderbar erscheinenden Schrift, die zur Gralsritterschaft beruft. Sondern der echte Gral, der Kelch des letzten Abendmahls, mit dem das Blut unseres Erlösers Jesus Christus am Kreuz aufgefangen wurde. Die Königin von Saba überreichte ihn einer Legende nach in Jerusalem König Salomo. Von den ersten Christen wurde der Santo Cáliz nach Rom gebracht, während der Christenverfolgungen nach Huesca in Aragón geschafft und während der arabischen Invasion im Jahr 711 im Bergkloster San Juan de la Peña versteckt.«
»San Juan de la Peña?« Der Papst hob die Augenbrauen.
Mit erhobener Hand bat ich ihn um einen Augenblick Geduld. »Der Priesterkönig, der sich selbst Sohn Davids nannte, hatte dem Bericht der beiden Kardinallegaten Pierre de Foix und Guillaume Fillastre zufolge geschrieben, dass jene Königin von Saba, die in Jerusalem König Salomos Weisheit prüfte, die Begründerin seiner Blutlinie sei. Der salomonischen Dynastie, die das
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