Der Gottesschrein
überreichen!
Bei unserem Abschied erkundigt sich Yonatan gut gelaunt nach meinem Namen. Als ich ihm sage, wer ich bin, vergeht ihm das Lächeln. Er wird plötzlich ernst und still und mustert mich, als sehe er mich jetzt mit anderen Augen. Was hat er denn?
An der nächsten Ecke bleibe ich unauffällig stehen und beobachte, wie Yonatan hastig seinen Laden verlässt, sich durch die Pilger drängt, die zur Grabeskirche strömen, und in einer Gasse des jüdischen Viertels verschwindet.
· Yared ·
Kapitel 18
In Yareds Arbeitszimmer in der Zitadelle
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Neun Uhr dreißig morgens
»Emir, heute Nacht gab es einen zweiten, noch schwerwiegenderen Vorfall«, erklärt der Imam der Al-Aqsa. »Im Felsendom.«
»Was ist geschehen?«, frage ich mit tonloser Stimme.
»Während der Nacht wurde eine Bodenplatte mit Gewalt aufgebrochen. Sie zerbrach dabei.«
Meine Bestürzung muss ich nicht heucheln.
Alessandra und Tayeb droht wegen der Entweihung des Haram ash-Sharif die Todesstrafe!
Und ich war ja auch dort …
»Warum sollte irgendjemand eine der Marmorplatten anheben?«, frage ich beklommen.
»Ich weiß es nicht. Unter dem Haram befindet sich ein Labyrinth von Abwasserkanälen und Zisternen.«
»Warst du dort unten?«
»Dort gibt es nichts zu sehen«, versichert er mir so nachdrücklich, als rechne er mit den neugierigen Fragen eines Rabbis, der doch allen Ernstes glaubt, dass es den jüdischen Tempel tatsächlich gegeben hat, obwohl bislang keine Fundamente gefunden wurden.
Dann fällt der Blick des Imams auf meine Skizze vor mir auf dem Schreibtisch. Beunruhigt beobachte ich ihn. Ob er die Cherubim, die die Bundeslade beschützen, erkennt, kann ich nicht sagen. Er verzieht keine Miene.
»Die unterirdischen Gänge führen nirgendwohin .«
Mit anderen Worten: Es gab nie einen Tempel, den Salomo erbaut hat, den Serubbabel nach der Zerstörung durch die Babylonier wieder aufbaute, den Herodes so großartig errichtete, dass er als antikes Weltwunder galt, und den Titus so gründlich zerstörte, dass nur die Stützmauern stehen blieben. Was die Verfasser des hebräischen Tanach und der Evangelien und auch Flavius Josephus so detailliert beschreiben, hat es nie gegeben. Ihr Juden leidet alle unter einem Gotteswahn …
»Ist der Haram ash-Sharif entweiht worden?«, frage ich angespannt.
»Das kann ich nicht sagen«, gesteht der Imam.
»Wieso nicht?«
»Weil ich nicht weiß, ob dieser Jude ins Labyrinth eingedrungen ist.«
Erstaunt hebe ich die Augenbrauen und verberge meine zitternden Hände in den weiten Ärmeln meines Brokatmantels. »Woher weißt du, dass es ein Jude war?«
Der Imam fummelt in der Tasche seiner Djellabiya herum und zieht mit spitzen Fingern ein paar weiße Seidenfäden heraus. »Weil wir heute Morgen diesen abgerissenen Merkfaden eines jüdischen Tallits vor dem Felsen Morija gefunden haben. Es ist ein sehr kostbarer Gebetsschal aus golddurchwirkter weißer Seide.«
Mit bebenden Fingern nehme ich ihm den mit Tayebs Blut getränkten Faden aus der Hand und betrachte ihn.
Jahwe befahl Moses: Ihr sollt die Merkfäden ansehen und dabei die Gebote des Herrn befolgen und heilig sein. Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus dem Land Ägypten herausgeführt hat. Ich allein bin euer Gott …
… und eure Hoffnung auf Frieden und Freiheit in einem souveränen Reich Israel …
Ich atme tief durch. Dann gebe ich dem Imam den Seidenfaden zurück.
Der Blick, den Uthman mir zuwirft, ist unergründlich.
Mein Freund weiß, dass ich letzte Nacht mit Arslan die Zitadelle verlassen habe – er hatte mich gesucht, weil er wegen meiner Heirat mit Jadiya nochmals mit mir reden wollte. Uthman weiß auch, dass ich einen solchen Tallit besitze.
Doch er scheint sich in der Betrachtung der Koranverse an der Wand hinter mir zu verlieren und schweigt beharrlich.
Und ich muss eine Entscheidung treffen, die mir nicht leichtfällt, denn nur zu gern würde ich ins Labyrinth zurückkehren, um die verschollene Bundeslade zu suchen. »Ich wünsche, dass die aufgebrochene Marmorplatte ersetzt und die Öffnung versiegelt wird.«
»So soll es geschehen, Emir.« Der Imam verneigt sich. »Prinz Uthman deutete vorhin an, er hoffe, dass du uns heute Mittag die große Freude machen wirst, zum Freitagsgebet in die Al-Aqsa zu kommen. Und dass du dich entschließen könntest, die Schahada zu sprechen. Es wäre mir eine große Ehre, mein Prinz, wenn ich das bezeugen
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