Der Gottesschrein
während eines Pontifikalamtes in der Basilica di San Pietro treffen sich die Gläubigen auf ein Schwätzchen – aber was ich hier sehe, verschlägt mir den Atem! Vor der Treppe zur Kapelle der heiligen Helena, der Mutter Kaiser Konstantins, die in jener Krypta angeblich das Kreuz Christi gefunden hat, verhökern zwei Franziskaner ohne jede Scham Grabtücher mit dem Abbild des Leichnams Jesu an die orthodoxen Gläubigen, die ihnen die Tücher geradezu aus den Händen reißen.
»Se Cristo vedesse!«, murmele ich erschüttert.
»Amen«, höre ich eine Stimme hinter mir, und als ich mich umwende, tritt ein Mönch vom Orden des heiligen Francesco von Assisi neben mich. »Wenn Jesus das sehen könnte, würde er zornig die Geißel schwingen, die Tische der Geldwechsler und Taubenverkäufer umwerfen und die Händler aus seinem Tempel vertreiben«, murmelt er auf Italienisch und deutet mit einer resignierten Geste auf die Fratres, die, wie es scheint, ein gutes Geschäft machen.
»Eine Tempelreinigung? Nein, das würde er nicht tun. Denn ich bezweifle, dass Rabbi Jeschua jemals eine Kirche betreten würde. Er würde in die nächste Synagoge gehen, wie er es den Evangelien zufolge an jedem Sabbat tat. Er war ein orthodoxer Jude.«
Der Frater im braunen Habit der Franziskaner blickt mich überrascht an.
Er ist Ende zwanzig. Geschwungene Augenbrauen überwölben braune Augen mit schweren Lidern und langen Wimpern, was ihm ein schwermütiges, ja trauriges Aussehen verleiht. Das kurz geschnittene, tonsurierte Haar und der dunkle Bart lassen sein blasses Gesicht asketisch schmal erscheinen. Jeder Florentiner Maler hätte ihn begeistert in seine Werkstatt gezerrt und ihm den Habit vom Leib gerissen, um ihn als lebendes Modell des leidenden Gottessohns zu malen. Fra Angelico, der seit Jahren das Kloster San Marco mit seinen Fresken schmückt, wäre hingerissen.
»Was werden wir Christen tun, wenn unsere Gebete endlich erhört werden und Jesus Christus als Messias zurückkehrt – mit Tallit und Tefillin und der hebräischen Thorarolle unter dem Arm? Konvertieren wir dann alle zum Judentum?«
Der Franziskaner lacht schallend. Sein Gelächter reißt mich mit – sehr zum Missfallen des orthodoxen Priesters, der sich unwillig zu uns umdreht.
»Schockiert?«, frage ich den Frater.
Er winkt ab. Dabei wirkt seine Hand seltsam unbeweglich. »Nein. Aber wie denkt die römische Inquisition darüber? Ihr stammt doch aus Rom, nicht wahr? Euer Akzent ist mir vertraut …«
»Euer Ordensbruder Fra Giovanni da Capestrano ist entsetzt.«
Der Franziskaner spitzt die Lippen und versteckt seine Hände in den Ärmeln seines Habits. Die Perlen des Rosenkranzes an seinem Gürtel klicken leise. »Kann ich mir vorstellen. Seid Ihr ihm schon begegnet?«
»Im Vatikan, im Arbeitszimmer des Papstes und beim gemeinsamen Abendessen mit ihm. Fra Giovanni und ich – wir sind so gut wie nie einer Meinung.«
»Ihr speist mit dem Papst? Und mit seinem Inquisitor?«, fragt er fassungslos. »Wer seid Ihr denn?«
»Alessandra d’Ascoli.«
Er verneigt sich. »Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Euer Gnaden. Und mein herzliches Beileid zum Tod Eures … hm … Gemahls.«
»Ihr wisst davon?«
»Die Kirchenunion von Florenz und die Rolle, die Seine Seligkeit Niketas IV . Evangelos, der Metropolit von Athen und Exarchos von Griechenland, dabei gespielt hat, haben hier in Jerusalem für Aufsehen gesorgt. Seine Seligkeit, Patriarch Joachim, hat getobt, als er hörte, dass der byzantinische Kaiser sich dem römischen Papst unterworfen hat, der damit zum Oberhaupt der vereinigten griechisch-römischen Kirche wurde.«
»Joachim hat Niketas exkommuniziert.«
Und dessen Tod bezeichnete dieser selbstgereche Priester als gerechte Strafe Gottes für den Verrat an eintausendvierhundert Jahren Orthodoxie!, denke ich verbittert.
»Starb er in Ungnade?«, fragt der Franziskaner bestürzt.
»Nein, Papst Eugenius hat Niketas’ Exkommunikation aufgehoben. Die beiden standen sich sehr nahe.«
»Dem Allmächtigen sei Dank!«, seufzt er erleichtert. »Ich werde für Niketas beten.«
»Grazie, Frate …«
»Fra Girolamo da Salerno«, stellt er sich mir vor. »Ich bin einer der Wächter des Heiligen Grabes.«
»Als Sultan Jaqmaq vor einigen Jahren die Franziskaner vom Berg Zion nach Kairo verschleppte …«
»Ich war in Kairo«, sagt er mit tonloser Stimme.
»Seid Ihr gefoltert worden?«
Er hebt beide Hände und zeigt mir die vernarbten Wunden an den
Weitere Kostenlose Bücher