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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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· Alessandra ·
Kapitel 19
    Im Hof der Grabeskirche
    16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
    Karfreitag, 26. März 1445
    Neun Uhr dreißig morgens

    Von der ehrwürdigen Grabeskirche ist nur die Südfassade des linken Seitenschiffs zu sehen, wo sich das Portal befindet. Und nur die Kuppel ragt über die angebauten Kapellen, Sakristeien, Klöster und den wuchtigen Glockenturm hinaus.
    Dominikaner, Franziskaner und Benediktiner eilen über den Hof vor der Basilika, koptische Priester und äthiopische Diakone, griechische, armenische und syrische Mönche und ein katholischer Bischof aus England mit seinem Gefolge. Trotz aller Unterschiede in Sprache und Bekenntnis bilden sie alle seit der Kirchenunion von Florenz ein Christentum mit einem Glauben und einer Kirche, die von Papst Eugenius in Rom beherrscht wird.
    »Ihr wartet hier auf mich.« Ich deute auf eine Treppe rechts neben dem Doppelportal der Grabeskirche, deren rechtes Tor Sultan Salah ad-Din zumauern ließ. Die Treppe führt zu einer Kapelle neben dem Golgatafelsen.
    »Dürfen wir denn nicht mit hinein?« Karim verrenkt sich fast den Hals, als er neugierig durch das Portal in die Kirche späht, zu der ihm als Muslim der Zutritt verwehrt ist.
    »Nein, ihr bleibt hier. Seht euch um, ob der Tempelritter hier auftaucht. Ihr findet mich in der äthiopischen Kapelle. In einer Stunde bin ich zurück.«
    Ich reihe mich in die Schar der Pilger ein und betrete die Grabeskirche, den heiligsten Ort der Christenheit, den Kaiser Konstantin mit einer Basilika überbaute, die die Kreuzfahrer nach dem ersten Kreuzzug erweiterten. Doch nun wirkt die Kathedrale so verfallen wie die Paläste des Vatikans seit dem jahrzehntelangen Exil der Päpste in Avignon. Das Gesetz der Dhimma schreibt vor, dass die Christen für die Renovierung einer Kirche einen Firman, eine formelle Erlaubnis des Emirs oder des Sultans, benötigen. Da die Kosten und die erforderlichen Bestechungsgelder oft die finanziellen Mittel der christlichen Orden übersteigen, verrotten die Kirchen im Mameluckenreich immer mehr, und seit Sultan Jaqmaq die Christen in Ägypten mit Feuer und Schwert verfolgt, werden nur noch die nötigsten Instandhaltungsarbeiten durchgeführt.
    Neben dem Portal befindet sich ein hölzerner Sitz, auf dem einer der muslimischen Wächter hockt. Gelangweilt nuckelt er an seiner Wasserpfeife und wacht darüber, dass die Pilger ihre Eintrittsgebühr an den Emir von Al-Quds entrichten. Meinem Pilgerführer zufolge sind die Schlüssel der Grabeskirche seit 1244 zwei muslimischen Familien anvertraut, die das Portal nach Einbruch der Dämmerung verschließen und die Kirche damit zur uneinnehmbaren Festung machen.
    Hoffentlich finde ich in diesem Labyrinth aus Klöstern, unterirdischen Krypten, angebauten Kammern und übereinander errichteten Kapellen einen Mönch oder Priester, der mich zu Gebre Christos führt!
    Am Salbungsstein, wo Jesu Leichnam ins Grabtuch gelegt wurde, wende ich mich nach rechts zur höher gelegenen Golgatakapelle im linken Seitenschiff. Auf den Stufen hinauf zur Kapelle mit dem Felsen, den Jesus mit dem schweren Kreuz auf dem Rücken hinaufstolperte und über den das Blut des Gekreuzigten floss, stehen dicht gedrängt die Pilger und versuchen, einen Blick in den kleinen Gebetssaal zu erhaschen. Dort findet gerade die lateinische Karfreitagsmesse statt. Vor den Stufen liest ein orthodoxer Priester eine griechische Messe. Er spricht besonders laut, damit er die Lateiner in der Kapelle, die beide Konfessionen ihr Eigen nennen, übertönt.
    Die Besitzverhältnisse der Grabeskirche, die den Lateinern, Griechen, Armeniern, Georgiern, Syrern, Kopten und Äthiopiern gemeinsam gehört, sind immer wieder Anlass zu eifersüchtigen Streitereien gewesen. Ein Dokument schreibt fest, welche Konfessionen wann, wo und wie lange ihre Messen lesen. Bis vor wenigen Jahren hat der Golgatafelsen den Armeniern und den Georgiern gehört. Nun gehört er den Griechen und den Lateinern gemeinsam, die in der Kapelle jedoch nicht gleichzeitig Gottesdienst feiern dürfen. Die Griechen gedenken dem Sterben Christi also nicht auf, sondern vor dem Felsen. Und stören damit erheblich die lateinische Andacht.
    Ich dränge mich durch die Reihen der byzantinischen Gläubigen, die sich um die mit Blumen und Kerzenleuchtern geschmückten Ikonen geschart haben, um sich zu bekreuzigen und die geweihten Bilder zu küssen …
    … und bleibe wenige Schritte weiter schockiert stehen.
    Ja gewiss, auch

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