Der Gottesschrein
geworfen.«
»Lebt er noch?«
»Nein, er starb unter großen Qualen. Sein Rückgrat war gebrochen. Der griechische Patriarch hat sich bei mir über die Gewaltbereitschaft der Muslime beschwert, die den Karfreitag entweiht und einen Mönch misshandelt und getötet hätten.«
»Die Franziskaner sind nach ihrer Rückkehr aus Al-Kahira noch immer die Wächter der heiligen Stätten der Christenheit in Al-Quds«, werfe ich ein. »Papst Eugenius wird den Tod eines am Karfreitag gekreuzigten Mönchs nicht einfach hinnehmen.«
Der Imam nickt ernst. »Zudem sind Tausende christliche und muslimische Pilger in der Stadt. Ich befürchte eine blutige Vergeltung, ein Massaker.«
»Ich werde Patriarch Joachim zur Mäßigung aufrufen und, soweit es mir möglich ist, für Ruhe und Ordnung in der Stadt sorgen. Und ich werde dem Papst schreiben und ihm den Vorfall schildern.«
Yusuf verneigt sich. »Emir, heute Nacht gab es einen zweiten, noch schwerwiegenderen Vorfall. Im Felsendom.«
Jetzt kommt es!, denke ich erschrocken.
Mein Herz rast.
»Was ist geschehen?«
· Alessandra ·
Kapitel 17
Auf dem Weg zur Grabeskirche
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Neun Uhr morgens
Vor dem Tor der Zitadelle bleibe ich einen Augenblick stehen, um die grandiose Aussicht zu genießen.
Kuppeln, Glockentürme, Minarette. Die Schreine der drei großen Religionen, die sich im Grunde alle auf denselben Gott berufen, den sie in Synagogen, Kirchen und Moscheen anbeten und in dessen Namen sie einen ›heiligen‹ Krieg gegeneinander führen.
Während mein Blick über die Stadt schweift, erinnere ich mich, was mir Natanael, Niketas’ jüdischer Bruder, gesagt hat: »In der Thora heißt es: Du sollst nicht töten! Ich glaube, dass sich Moses, als Gott ihm seine Gebote offenbarte, nicht alles merken konnte. Das Gebot lautet vollständig: Du sollst nicht töten, erst recht nicht im Namen Gottes!«
Gott ist Glaube, Hoffnung und Liebe. Er ist Barmherzigkeit, Versöhnung und Frieden. Jeder Streit, jede Gewalt, jeder Krieg im Namen Gottes ist ein Frevel gegen den Allerhöchsten.
Ich taste nach dem päpstlichen Breve und der Botschaft des Priesterkönigs in meiner Tasche, die ich dem Abt der Grabeskirche zeigen will, wenn ich ihn nach den Rittern Christi frage, während ich hinunter zur Davidstraße schlendere und in eine farbenfrohe und lebendige orientalische Welt eintauche, in der die Zeit stehen geblieben ist.
In diesem Souk haben die Reliquienhändler ihre Läden. Und was es hier nicht alles zu kaufen gibt! Eine Handvoll Stroh aus der Weihnachtskrippe, ein Splitter vom Kreuz, Blut aus den Nagelwunden, ein Dorn der Dornenkrone, die Tränen Marias, die unter dem Kreuz um ihren Sohn weinte. Die Tränen, denke ich vergnügt, sind vermutlich Wasser aus der Gihon-Quelle. Und woher das Stroh stammt, kann ich mir denken.
Von vorne angerempelt und von hinten getreten, schiebe ich mich durch die dicht gedrängten Pilger, die zur Grabeskirche eilen. Es ist neun Uhr – Christus wurde um diese Stunde ans Kreuz genagelt.
Als sich der Strom der Menschen nach links in den Souk der Gewürze ergießt, der das muslimische vom christlichen Viertel trennt, muss ich aufpassen, dass ich nicht mitgerissen werde. Noch ganz außer Atem stolpere ich die Kettenstraße entlang. Ja, hier in dieser Gasse, die ins Judenviertel führt, werde ich finden, wonach ich suche.
Eine Horde von fünf, nein, sechs Jungen folgt mir von Laden zu Laden. Ihre Kleidung besteht nur aus staubigen, zerfetzten Lumpen. Neugierig springen sie um mich herum, zupfen an meinen Ärmeln, machen große glänzende Augen und formen mit den Händen eine Bettelschale in der Hoffnung auf ein Bakschisch.
»Wie heißt du?«, schreien sie und drängen sich gegenseitig ab.
»Alessandra.«
»Woher kommst du?«
»Aus Rom.«
»Hast du Kinder?«
»Nein.«
Mit großen Augen staunen sie mich an. Dann fragen sie mit kindlicher Offenherzigkeit: »Wieso nicht?«
»Weil der Mann, den ich sehr geliebt habe, gestorben ist.«
Betroffene Gesichter. Dann die arglose Frage: »Suchst du dir nun einen neuen?«
Ich kann nicht anders, ich muss herzlich lachen. Ja, warum eigentlich nicht?
»Brauchst du einen Führer zu den heiligen Stätten?«, fragt einer der Jungen, der eine jüdische Kippa auf dem Kopf trägt, und spult einen auswendig gelernten Text herunter: »Ölberg, Getsemani, Via Dolorosa, Geißelungskapelle, Grabeskirche.«
»Nein danke«, winke ich lachend ab.
Doch die
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