Der Gottesschrein
Handgelenken. Die Stigmata einer Kreuzigung. »Ich habe mich geweigert, zum Islam zu konvertieren.«
»Der Sultan hat Euch an ein Kreuz nageln lassen?«, frage ich entsetzt.
»Sechs Stunden lang. Wie unseren Herrn Jesus Christus.« Fra Girolamo verschränkt die Hände, die er offensichtlich nicht mehr benutzen kann, in den Ärmeln seines Habits. »Ich weiß nun, welche Qualen er am Kreuz erdulden musste.«
»Aber Ihr habt es überlebt.«
»Ein Jude hat sich für mich eingesetzt und den Sultan gebeten, mich vom Kreuz zu nehmen.«
»Ein Jude?«
»Yared al-Gharnati, der Vertraute des Sultans. Ihm verdanke ich mein Leben. Und meinen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes. Selig die Sanftmütigen und Barmherzigen, die den um ihres Glaubens willen Gefolterten in ihrer Not beistehen, wie Yared es getan hat. Selig die Friedensstifter, die im Stillen ihre Macht und ihren Einfluss nutzen, um sich für die verfolgten Christen in Ägypten ebenso einzusetzen wie für die Juden. Er ist ein Gerechter. Ein wahrer ›Sohn Gottes‹.«
Ich nicke. »Frater, könnt Ihr mir sagen, wo ich Gebre Christos finden kann, den Abt des äthiopischen Klosters hier in der Grabeskirche?«
»Ihr kennt Gebre Christos?«, fragt er überrascht.
»Als er während des Unionskonzils in Florenz weilte, war er oft zu Gast in meinem Palazzo an der Piazza del Duomo.«
»Ich bringe Euch zu ihm.« Fra Girolamo deutet hinüber zur Kapelle des Heiligen Grabes. »Hier entlang.«
Während er mich durch das Hauptschiff zur Grabkapelle unter der großen Kuppel führt, hinkt er so sehr, dass ich ihm meinen Arm anbiete, damit er sich darauf stützen kann, doch er lehnt ab.
Vor dem Portal des Heiligen Grabes wartet eine Schar kastilischer Pilger. Sie wollen von einem byzantinischen Priester in die Grabkammer eingelassen werden, um am allerheiligsten Ort der Christenheit ein kurzes Gebet zu sprechen. Über dem marmornen Portal, das von riesigen Kerzenleuchtern flankiert ist, hängen in mehreren Reihen silberne Öllampen, die den Lateinern, den Griechen und den Armeniern gehören.
»Habt Ihr das Heilige Grab besucht?«, fragt Fra Girolamo.
»Nein, noch nicht.«
»Die Tür ist stets geöffnet, ausgenommen in der Zeit von Karfreitagnachmittag bis zur Osternacht. Hinter dem Portal liegt die Engelskapelle. Dort saß am Ostersonntag der Engel auf dem Rollstein und verkündete: ›Er ist nicht hier, er ist auferstanden.‹« Fra Girolamo deutet auf die kastilische Pilgerschar. »Wenn Ihr später wiederkommt, kurz vor der Non, bevor das Portal des Grabes geschlossen wird, werde ich dafür sorgen, dass Ihr allein hineingehen könnt, um ungestört zu beten. Zur Stunde seines Todes, allein in seiner Grabkammer, in der unser Erlöser auferstand. Näher könnt Ihr ihm nicht sein.«
»È vero. Grazie, Frate.«
Wir umrunden das Heilige Grab. Hinter der Grabkapelle feiern einige syrische Mönche in schwarzen Habiten eine Messe auf Aramäisch, der Sprache Jesu.
»Die Kapelle an der Rückseite des Heiligen Grabes gehört den Kopten. Die Kapelle der Syrer befindet sich in der Apsis gegenüber. Aber sie kann derzeit nicht benutzt werden, weil dort Baumaterial lagert, Holzgerüste, Steinquader und Werkzeuge«, erklärt mir Fra Girolamo und schiebt mich durch die Reihen der Mönche, die gerade das Pater noster auf Aramäisch beten. Ich bin erstaunt, wie viel Aramäisch ich verstehen kann. »Dort drüben führt eine niedrige Tür in eine Grabkammer, in der vermutlich Joseph von Arimatia begraben lag. Und in der erleuchteten Kapelle dort drüben findet Ihr den ehrwürdigen Gebre Christos inmitten seiner Priester und Mönche.«
»Grazie, Fra Girolamo.«
»Wenn Ihr mich sucht, ich bin im Konvent der Franziskaner. Dort drüben im rechten Seitenschiff.« Fra Girolamo da Salerno verneigt sich vor mir. Dann wendet er sich ab und verschwindet im mystischen Dämmer der Grabeskirche.
Die Kapelle der Äthiopier ist mit Ikonen auf langen Pergamentrollen aus Ziegenleder geschmückt, die Iyasus Christos und seine Mutter Maryam zeigen. Sie haben dunkelbraune Haut, schwarzes Haar und große, freundlich blickende Kulleraugen. Der äthiopische Iyasus Christos ist kein gegeißelter, gekreuzigter, sterbender Gottessohn, wie er in Rom verehrt wird. Kein byzantinischer Pantokrator, der in kaiserlichem Ornat auf den Wolken des Himmels thront und mit majestätischem Gestus den Erdkreis beherrscht. Kein von Allah gesandter Prophet Issa. Und kein jüdischer Rabbi Jeschua, dem die Evangelisten
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