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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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ich es öffnen?«
    »Wenn du willst.«
    Ich löse die Verschnürung und schlage den Stoff zurück. Zum Vorschein kommt …
    »Ein Tallit!«, murmele ich überrascht.
    »Letzte Nacht hast du deinen Gebetsschal zerrissen, um Tayebs Wunden zu verbinden. Ich habe dir einen neuen gekauft. Hoffentlich gefällt er dir.«
    Schwungvoll entfalte ich ihn und lege ihn mir über die Schulter, um die golddurchwirkte Seide und die langen Merkfäden zu betrachten. »Ja, er gefällt mir …«
    … aber er zerreißt mir das Herz.
    Sie sucht meinen Blick. »Dann wirst du ihn tragen?«
    Ich lasse die Merkfäden durch meine Finger gleiten. Sie sind ein Symbol der Mahnung: ›Vergiss niemals, dass du ein Sohn Israels bist. Ich bin der Herr, dein Gott. Der Gott deiner Väter.‹
    »Seit Jahren habe ich mit keinem Tallit mehr gebetet«, gestehe ich. »Seit meiner Flucht aus Gharnata. Seit ich …« Ich verstumme, denn ich will sie nicht erschrecken – jedenfalls nicht jetzt schon. »Letzte Nacht im Felsendom … da habe ich …«
    Wie soll ich ihr bloß erklären, was in mir vorgeht?
    »Hayya ala as-salaaaaaat!« Der Muaddin ruft unerbittlich zum Gebet.
    »Alessandra …«, fasse ich mir ein Herz, ihr zu sagen, was mich bewegt, und doch zögere ich – wegen Benyamin, der mir ohnehin schon grollt.
    »Ja?«, fragt sie mit glänzenden Augen.
    »Hayya ala al-falaaaaaah!« Eilt zur Seligkeit, ihr Gläubigen!
    »Alessandra, ich würde gern …«
    Doch bevor ich ihr sagen kann, was ich ihr sagen will, prescht Uthman in den Audienzsaal. »Yared, es ist so weit. Kommst du?«
    Als er mich mit Alessandra sieht, den Tallit über dem Arm, bleibt er abrupt stehen und runzelt die Stirn.
    »Uthman, darf ich dir Alessandra d’Ascoli vorstellen? Alessandra, das ist Prinz Fakhr ad-Din Uthman al-Mansur.«
    »Es-salamu alekum.« Sie führt die Hand zu ihrem Herzen und verneigt sich vor ihm.
    Er nickt ihr höflich zu. »W’alekum es-salam. Yared hat mir erzählt, dass du mit deinem muslimischen Freund Forschungsreisen in den Orient unternimmst, um seltene Bücher und Handschriften nach Italien zu bringen.«
    »In meinem Scriptorium in Florenz lasse ich sie übersetzen und kopieren, um sie an Gelehrte in aller Welt zu verkaufen.«
    »Und an den Sultan von Ägypten. Mein Vater besitzt einige Bücher, die in deinem Unternehmen hergestellt worden sind. Sehr schöne Folianten. Ich bin sehr beeindruckt und hoffe, dass wir während der nächsten Tage noch Gelegenheit haben werden, uns bei einem Glas Minztee zu unterhalten. Du musst mir unbedingt von deiner Expedition nach Al-Iskanderiya berichten. Yared hat mir erzählt, dass er vor sechs Jahren beinahe das Todesurteil über dich und deinen Freund unterzeichnet hätte, es auf Bitten des Papstes jedoch zerrissen hat. Ist es wahr, dass du in einer versunkenen Synagoge ein neues Evangelium entdeckt hast?«
    »Ja, das stimmt«, sagt sie und nickt.
    »Steht in diesem Evangelium etwas anderes als in den anderen vier?«
    »Allerdings. Es gibt keine Passionsgeschichte. Keinen Einzug nach Jerusalem als Messias. Keine Tempelreinigung. Keine Kreuzigung. Keine Auferstehung. Und keine Himmelfahrt. Es hat meinen christlichen Glauben erschüttert. Wenn ich heute Nachmittag Jesu Grab besuche, werde ich nicht beten, sondern eines großartigen Menschen gedenken, der der Menschheit die Bergpredigt schenkte. Rabbi Jeschua ha-Nozri, Jesus der Nazoräer, war ein orthodoxer Jude. Ein Mensch, kein Gott.«
    »Die Suren des Korans offenbaren dasselbe. Und was sagen die römischen Inquisitoren dazu?«
    Alessandra faltet übertrieben andächtig die Hände zum christlichen Gebet, hebt die Augen zum Himmel und fleht in dramatischem Tonfall: »Herr, bewahre dein auserwähltes Volk, die Christenheit, vor dieser Häretikerin! Schütze die Macht deiner Heiligen Kirche, die mit Donnergetöse einstürzen wird, wenn bekannt wird, dass Jesus Christus nie die Absicht hatte, eine Kirche zu gründen – weder eine römisch-katholische noch eine griechisch-orthodoxe, und auch keine koptische, syrische, armenische oder äthiopische Kirche.«
    Uthman lacht vergnügt.
    Nicht zu fassen, Alessandra hat ihn in ihren Bann gezogen! Uthman ist ganz offensichtlich bezaubert von ihr.
    »Ich fühle mich geehrt, wenn du mich morgen Nachmittag in meinen Gemächern besuchst und mir von diesem Evangelium erzählst.«
    Allmächtiger Gott! Wenn Uthman sie nun fragt, wonach sie in Jeruschalajim sucht? Und wenn er vermutet, dass sie auf der Suche nach der verschollenen

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