Der Gottesschrein
dreißig. Sein Gesicht ist dunkel wie Ebenholz, daher konnte ich die schwarze Tätowierung auf seiner Stirn nicht sofort erkennen. Es ist eine gütig lächelnde Sonne, das Symbol für Iyasus Christos. Solomon reicht mir seine Hand und ergreift dabei meinen linken Unterarm – das ist in Äthiopien die respektvolle Art, einander zu begrüßen: mit beiden Händen. Als sich dabei die Ärmel seiner Robe hochschieben, sehe ich die Tätowierungen auf seinen Armen: Es sind Gebete in der heiligen Sprache Geez.
Solomons Lächeln ist bezaubernd, als er leicht den Kopf neigt. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Woizero Alessandra.«
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Abetahun Solomon.«
»Ich danke dir für die Ehre, die du mir erweist, indem du mich so formell ansprichst. Doch vielleicht sollten wir auf die Anreden als Abetahun und Woizero, als Prinz und Prinzessin, verzichten und uns beim Namen nennen.«
»Wie du willst.«
»Was ist? Warum lächelst du?«, fragt er irritiert.
»Du siehst deinem Ur-Ur-Urgroßvater ein bisschen ähnlich.« Ich ziehe das lederne Bild aus der Tasche, in der auch der gefaltete Tallit und das päpstliche Breve stecken, entrolle es und zeige es dem Prinzen, der vergnügt zu lachen beginnt.
»Makeda von Saba und Salomo von Israel«, schmunzelt er. »Beinahe wäre ich ihm auf den Thron nachgefolgt. Du meinst, ich sehe aus wie er?« Seine ausgelassene Heiterkeit reißt mich mit, und ich lache mit ihm. Schließlich bemüht er sich wieder um eine würdevolle Haltung. »Begleitest du mich zum Heiligen Grab?«
Bevor ich antworten kann, nimmt er meine Hand und führt mich durch die Gasse der äthiopischen Mönche zum Portal der Grabeskirche. Dort kniet er nieder, bekreuzigt sich, küsst die staubige Schwelle und berührt mit der Stirn den Boden. Sodann erhebt er sich, verharrt einen Herzschlag lang und sinkt erneut auf die Knie. Dieses Ritual wiederholt er noch zwei Mal. Dann begibt er sich in die Grabeskirche, um am Grab Jesu ein Gebet zu sprechen – die Grabkammer selbst, das Allerheiligste, betritt er nicht.
Nachdem wir wenig später die Basilika verlassen haben, hilft er Gebre Christos in den Sattel eines Esels, schenkt mir ein warmes Lächeln, hält inne und kommt noch einmal zu mir zurück. »Wo wohnst du?«
»Der Emir war so freundlich, mir seine Gastfreundschaft zu gewähren. Ich wohne in der Zitadelle.«
»Und ich im Kloster Hagia Sion auf dem Berg Zion. Ich wäre glücklich, wenn du mich dort besuchst und Kaffee mit mir trinkst. Am Hof meines Onkels leben ein Byzantiner, zwei Venezianer und ein Florentiner, und mein Freund Piero, einer meiner Offiziere, stammt aus Messina. Sie können mir jedoch nicht alle meine Fragen beantworten. Du musst mir von Rom erzählen. Und vom Konzil in Florenz.«
»Und du musst mir von Lalibela und Aksum berichten. Nach dem Fasikafest werde ich gern kommen.«
»Darf ich dich in die Zitadelle geleiten?«
Eigentlich wollte ich mir die Karfreitagsprozession in der Via Dolorosa ansehen, die eben gerade begonnen hat. Aber ich will sein freundliches Angebot, mich in die Festung zu eskortieren, nicht ablehnen, denn Dom Tristão verbirgt sich irgendwo in der Menge der Pilger. Außerdem will ich nach Tayeb sehen, der berauscht vom Haschisch in den Gärten des Paradieses wandelte, als ich ihn vor zwei Stunden verließ.
»Ja, sehr gern.«
»Wo ist dein Gefolge?«
Ich deute auf die Gassenjungen, die verstohlen zwischen den langen Gewändern der Mönche hervorlugen, um einen Blick auf den Ehrfurcht gebietenden schwarzen Prinzen zu erhaschen. Als ich sie heranwinke, drängen sich die Lausebengel durch die Reihen und kommen, ein wenig stiller und scheuer als vorhin, zu mir herüber. »Lauft zum Tor der Zitadelle, und wartet dort auf mich.«
Die Jungen stieben unter großem Gejohle davon.
Der Prinz unterdrückt ein amüsiertes Grinsen, nimmt meine Hand und geleitet mich über den Hof, während er seinem Gefolge befiehlt, ein weiteres Maultier für mich herzuführen.
In aller Eile wird eine schwere, von mehreren Schichten kostbaren Brokatstoffs verhüllte Truhe abgeladen. Ein Priester kniet nieder, verneigt sich vor der Lade und küsst den Saum des schimmernden Seidenstoffs, dann hebt er sie mit beiden Händen hoch und setzt sie sich auf den Kopf.
Solomon, der mir beim Aufsteigen geholfen und meinen neugierigen Blick bemerkt hat, nickt in Richtung der Truhe: »Das ist das Tabot.«
Dann nimmt er endlich die Hand von meinem Knie, die auf eine sehr
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