Der Gottesschrein
lautstarken Gedränge und Geschiebe der Davidstraße kommen wir nur langsam voran, denn in dieser Gasse treffen die Pilgerströme aufeinander. Die Christen drängen zur Grabeskirche und weiter zur Via Dolorosa, die Muslime folgen dem Gebetsruf des Muaddins zur Al-Aqsa und schieben sich, nach links und rechts um sich schlagend, durch das Gewühl.
Plötzlich stößt jemand einen zornigen Schrei aus, irgendwo vor uns in der Menge!
»Die verfluchten Muslime haben am Karfreitag einen unschuldigen Franziskanermönch gekreuzigt! Diese gottlosen Anhänger des Propheten des Satans …« Mit einem Schmerzensschrei verstummt der Rufer. Wahrscheinlich hat ihn eine muslimische Faust zum Schweigen gebracht.
Nur wenige Schritte vor uns entbrennt mitten in der Gasse der Reliquienhändler eine wüste Schlägerei, die sich rasch zum erbitterten Straßenkampf entwickelt. Fäuste werden erhoben, Dolche gezückt, dann fliegen die ersten Pflastersteine.
Arslan und seine Bewaffneten drängen an Uthman und mir vorbei mitten hinein in den Tumult und ziehen ihre Schwerter, um die Streitenden zu trennen, bevor es Tote gibt.
Nach einer Weile wendet Arslan sein Pferd und zwängt sich durch die Reihen der herandrängenden Schaulustigen zurück zu uns. »Meine Mamelucken werden für Ordnung sorgen. Wir nehmen einen anderen Weg.« Arslan deutet in eine schmale Gasse, die nach rechts ins armenische Viertel führt.
Er winkt einige seiner Bewaffneten heran und führt uns durch die Straße des Evangelisten Markus zur syrisch-orthodoxen Markusbasilika.
Von dort geht es einige hundert Schritte nach Süden, anschließend biegen wir in eine Gasse des jüdischen Viertels ein und erreichen wenig später die Synagoge. Das Holzschild mit einem Zitat von Moses ben Nahman, das ich letzte Nacht gelesen habe, hat der Sturm zerbrochen. ›O Jeruschalajim, Tempel Gottes und Tor zum Himmel …‹
Überall im Judenviertel werden die schmalen, getreppten Gassen gefegt, die zur Klagemauer hinunterführen, überall wird geputzt und das Essen für den nächsten Tag gekocht. Denn heute Abend bei Sonnenuntergang beginnt der Schabbat.
Der verführerische Duft der weißen, mit Mohn bestreuten Schabbatbrote dringt mir in die Nase.
Erinnerungen an mein Haus in Gharnata steigen in mir auf, an Rebekka, die Schabbatbrote backt, als ich am Freitagnachmittag nach einem Streit mit Muhammad völlig entnervt aus der Alhambra nach Hause zurückkehre. Ihre Nasenspitze ist mit weißem Mehl bestäubt. Und Yona, der mit beiden Händen in einem Teig gewühlt hat, um daraus Sesamkringel zu formen, läuft mir ausgelassen lachend entgegen und wirft sich derart ungestüm in meine Arme, dass er mich beinahe umwirft.
Wann habe ich zuletzt den Schabbat gehalten?, frage ich mich wehmütig. Während meiner monatelangen Flucht von Timbuktu nach Agadez und über Ghat nach Tarabulus hatte ich dazu keine Gelegenheit. Ich glaube, es war irgendwann auf dem langen Weg von Fes nach Timbuktu, als die Sklavenkarawane einen Tag lang zwischen den Sanddünen rastete, weil die Gefangenen zu erschöpft waren, um auch nur einen Schritt weiter durch die Wüste zu laufen. Viele Sklaven starben an den Strapazen. Sie brachen tot zusammen, wie der alte Mann, mit dem ich während des endlosen Gewaltmarschs zusammengekettet war. Den ganzen Tag lag ich neben seiner Leiche, die in der sengenden Hitze schon nach wenigen Stunden zu verwesen begann und die ich nicht begraben konnte, weil meine Hände an den Toten gefesselt waren. Erst am Abend, als sie mir einen Schluck Wasser gaben, haben sie mich endlich losgemacht.
Das war mein letzter Schabbat.
Ich atme tief durch. Wie lange ist das her? Dreizehn Jahre!
»Du hast keine Kinder, an die du das kostbare bisschen Judentum, das du dir nach den Jahren des Leidens noch bewahrt hast, weitergeben könntest«, hat Uthman letzte Nacht gesagt.
Dieses kostbare bisschen Judentum erweist sich plötzlich als meine einzige Verbindung zu dem verlorenen Paradies meiner glücklichen Kindheit, aus dem ich mit Gewalt vertrieben wurde, zu meiner verlorenen Liebe zu Rebekka und Yona und dem ungeborenen Kind, auf das ich mich so gefreut hatte, obwohl ich nicht sein Vater war. Dieses kostbare bisschen Judentum, dieses kostbare bisschen Geborgenheit, wird mir plötzlich unerwartet wertvoll.
Wir haben den Platz vor der Klagemauer erreicht, der mit Pessachpilgern überfüllt ist. Sie beten an der Mauer und stecken kleine gefaltete Zettel zwischen die Steinquader. Etliche Quaderschichten
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