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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Grinsen zu mir hoch und lässt mich nicht mehr los. Ich verwuschele sein lockiges Haar. Ich habe den Kleinen in mein Herz geschlossen, und das weiß diese niedliche Rotznase ganz genau.
    »Verstehst du, was sie singen?«, fragt Ioannis, der vor mir die Stufen hinaufstolpert und sich dabei immer wieder zu mir umdreht, weil er fürchtet, dass ich im Gewühl auf der Via Dolorosa verloren gehen könnte. Oder dass der Tempelritter aus einem dunklen Torbogen stürzt, sein Schwert zückt und mich ermordet, inmitten der armenischen Karfreitagsprozession.
    »Sie singen: ›Wir beten dich an, o Christus, und wir preisen dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst. Herr, erbarme dich unser. Amen.‹«
    Die Via Dolorosa biegt nach links ab in die Al-Wad-Straße, die zur Klagemauer führt. »Hier ist die dritte Station.« Ioannis weist auf ein Schild an der Hauswand. »Hier stürzte Jesus zum ersten Mal unter dem schweren Kreuz.«
    Mein Blick huscht an der Fassade hoch. Das Gebäude ist eine Medersa, eine Koranschule. Vom Dach aus beobachtet eine Gruppe zum Kampf gerüsteter Mamelucken das Treiben in der Via Dolorosa. Ich vermute, dass Yared die Bewaffneten nach dem Tod des gekreuzigten Franziskaners dort oben postiert hat – offenbar befürchtet er blutige Unruhen.
    Wenige Schritte die Straße hinunter biegt die Via Dolorosa nach rechts ab zur fünften Station, wo Simon von Kyrenai Jesus das Kreuz abnahm. Die Pilger schieben sich auf dem holperigen, an manchen Stellen getreppten Pflaster in die enge Gasse, wo nun die Bettler über sie herfallen. Ihr Geschrei übertönt den frommen Gesang.
    Bis zur siebten Station führt die Via Dolorosa über etliche Treppenstufen hinauf nach Golgata. Wie der aufgehende Halbmond ragt die blaue Kuppel der Grabeskirche über dem äthiopischen Kloster auf.
    An der Kreuzung zu einem Souk mit Läden aus der Kreuzfahrerzeit, der nach Norden zum Damaskustor führt, liegt die siebte Station: Hier brach Jesus zum zweiten Mal zusammen. Meinem lateinischen Pilgerführer zufolge stand an dieser Kreuzung einst das Stadttor, durch das Jesus hinaus nach Golgata geführt wurde. Pilatus’ Todesurteil soll der Legende nach an einer Säule dieses Tores befestigt gewesen sein. Daher haben die Christen es das ›Tor des Gerichts‹ genannt.
    Nomen est omen – ein passender Name, denke ich beklommen, denn ein zorniges Strafgericht wird mich im griechisch-orthodoxen Patriarchat erwarten, wenn ich um eine Audienz bei Joachim bitte. So viel hängt für mich von diesem Treffen ab – denn wie soll ich die Christusritter ohne seine Unterstützung finden? Unruhig taste ich nach dem Beglaubigungsschreiben des Papstes in meiner Tasche.
    Wenige Schritte die Gasse hinunter biegt die Via Dolorosa nach links ab zur Grabeskirche. Ein Stück weiter, an der Straße, die nach Westen führt, liegt das Patriarchat. Zwei Kinder spielen in der Gasse – ein Junge kauert in einer Holzkiste und klammert sich ängstlich an den Rand, der andere schiebt ihn polternd über das Pflaster der abschüssigen Straße in unsere Richtung. Direkt vor mir kommt die Kiste unter großem Gekichere schlitternd zum Stehen. Na, die kleinen Kerle haben ihren Spaß!
    Einige Schritte die Straße hinauf waschen zwei Novizen des Basilianerordens mit schäumender Seifenlauge einen hellgrauen Esel, der missmutig die Ohren abwinkelt und den Kopf hängen lässt. Sein protestierendes Iahen verhallt ungehört, als ihm die Novizen einen Eimer Wasser über den Kopf schütten, um den Schaum abzuspülen und das Fell anschließend trocken zu striegeln. Vermutlich ist der Esel das edle Reittier Seiner Seligkeit, das für die Audienz beim Emir hergerichtet wird. Saphira hatte mir erzählt, dass Joachim heute Nachmittag Yared seine Aufwartung machen will.
    Ich bitte Elija, der nun endlich meine Hand loslässt, dass er mit seinen Freunden auf der Treppe des Patriarchats auf mich wartet. Dann steige ich die Stufen empor.
    Drei Basilianermönche im schwarzen Habit sitzen nebeneinander im Schatten und blättern durch die Handschriften eines muslimischen Buchhändlers, der seine Bücher auf einer Decke neben der Treppe ausgebreitet hat. Wenn man bedenkt, dass die Bibliothek des Patriarchats – auch wenn sie unbedeutender ist als meine eigene in Florenz –, die größte Büchersammlung im Heiligen Land ist, kann ich den verbissenen Versuch des Buchhändlers, hier ein paar Handschriften zu verhökern, nur belächeln.
    »Alessandra!«, ruft mich Karim plötzlich

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