Der Gottesschrein
goldenen Medaillons auf seiner Brust fest und lässt sich sehr würdevoll auf dem niedrigen Polster nieder. Unruhig zupft er an den Falten seiner weiten Robe herum.
»Ich bin erstaunt, dass du mich am Karfreitag, dem höchsten orthodoxen Feiertag, mit deinem Besuch beehrst. Haben nicht gerade eben die Liturgien anlässlich der Todesstunde Jesu Christi in der Grabeskirche stattgefunden?«
»Du hast recht.«
»Mein Sekretär sagte mir, du wolltest mich unter vier Augen sprechen. Worum geht es?«
»Um das Geschehen im Felsendom, das die Heilige Stadt in Unfrieden und Gewalt gestürzt hat. Weißt du schon, wer heute Nacht in das Labyrinth unter dem Haram ash-Sharif eingedrungen ist?«
»Nein«, erkläre ich kaltblütig. »Du?«
Er zögert. Dann holt er tief Luft. »Emir, es gibt da etwas, was du wissen solltest …«
· Alessandra ·
Kapitel 29
In der Grabeskirche
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Kurz nach acht Uhr abends
Vor dem Portal des Heiligen Grabes vollzieht der Patriarch den feierlichen Ritus der Grablegung.
In einer bewegenden Prozession tragen die byzantinischen Priester die Altarikone der Golgatakapelle bis vor die Grabkammer und bahren sie vor der Kreuzesdarstellung auf. Diakone bekränzen die Ikone mit Blumen und illuminieren sie mit goldenen Kerzenleuchtern.
Als Joachim zur Ikone tritt, lässt er seinen Blick über die Menge der Gläubigen schweifen. Keine zehn Schritte entfernt halte ich mich im Schatten einer Säule, doch in meinem schlichten schwarzen Gewand erkennt er mich nicht – ebenso wenig wie Dom Tristão. Mit einem Gefährten, der wie er in ein schwarzes Skapulier gehüllt ist, kniet er in der letzten Reihe der Gläubigen vor dem Durchgang zum Katholikon, dem griechisch-orthodoxen Hauptschiff der Grabeskirche, und betet mit gesenktem Kopf. Als Dom Tristão sich bekreuzigt und erhebt, schimmert der weiße Habit, den er auch in größter Gefahr nicht ablegen darf, unter dem schwarzen Mantel hervor.
Ich ziehe meine Kapuze tiefer ins Gesicht, falte die Hände zum Gebet und beobachte ihn aus den Augenwinkeln. Die Brandwunde an seinem rechten Auge kann er mit dem losen Ende des blauen Turbans nicht vollständig verdecken. Er erträgt offenbar keinen Verband.
»Seht das heilige und Heil bringende Leiden unseres Herrn und Gottes, unseres Erlösers Iesous Christos, das er um unseretwillen auf sich nahm!«, intoniert der Patriarch auf Griechisch. »Erkennt die Demütigungen, die Misshandlungen, die Beleidigungen, die Geißel, das Kreuz und den Tod. Aber auch das Versprechen des Heils am Kreuz an denjenigen, der gekreuzigt wurde. In deiner unfassbaren und unermesslichen Barmherzigkeit, Christos unser Gott, erlöse uns! Amen.«
Still nähern sich die Gläubigen, bekreuzigen sich dreimal und küssen die Ikone. Viele haben Tränen in den Augen, als sie zurücktreten. Dom Tristão und sein Schwertbruder schließen sich den frommen Orthodoxen an und verneigen sich vor der Ikone, küssen sie jedoch nicht.
Gespannt beobachte ich den Patriarchen, der Dom Tristão und dessen Gefährten erschrocken anstarrt – nach der Beschreibung, die ich ihm heute Nachmittag gegeben habe, hat er ihn wohl erkannt. Doch offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass die Ritter Christi an der orthodoxen Abendliturgie zur Grablegung Jesu Christi teilnehmen.
Beunruhigt lässt er seinen Blick durch den Kuppelraum schweifen.
Ich weiß, wen er sucht.
Bleich starrt er in meine Richtung. Hat er mich entdeckt?
Was hat er heute Nachmittag während seiner Audienz mit Yared besprochen – hat er mich verraten? Was erwartet mich, wenn ich zum Abendessen mit Benyamin in die Zitadelle zurückkehre? Wenn sie das Templerschwert gefunden haben … Tayeb kann sich nicht gegen sie wehren!
Ehrlich gesagt, habe ich nicht darauf vertraut, dass mich die Offenbarung des Geheimnisses um den vergessenen Papst, die Joachim gefügig machen sollte, vor einem Verrat bewahren würde.
Durch den Blick des Patriarchen aufmerksam geworden, sucht mich nun auch Dom Tristão in der Menge der Gläubigen.
Ich weiche weiter zurück in den Schatten der Säule und taste nach meinem Dolch. Dom Tristão tuschelt mit seinem Schwertbruder, deutet auf den Patriarchen und nickt in meine Richtung. Der andere runzelt die Stirn und folgt seinem Blick. Dann nickt er langsam und raunt seinem Ordensbruder etwas zu.
Sie trennen sich. Dom Tristão geht langsam um die Gläubigen vor dem Heiligen Grab herum. Wahrscheinlich will
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