Der Gottesschrein
er mich in die Enge treiben. Er blickt absichtlich nicht in meine Richtung. Sein Schwertbruder schlendert in aller Seelenruhe durch das Katholikon zur Golgatakapelle neben dem Portal, um mir den Fluchtweg abzuschneiden.
Verdammt! Sie haben mich gesehen …
Was soll ich tun?
Mir bleibt fast das Herz stehen, als jemand von hinten an meinem Ärmel zupft.
Meine Hand umklammert fest den Griff des Dolchs, als ich mich mit hochgezogenen Schultern umwende.
Es ist Elija.
Ich fasse es nicht! Wie die anderen Jungen habe ich ihn fortgeschickt, nachdem wir in der Abenddämmerung das Versteck der Christusritter entdeckt hatten! Was tut er denn hier? Es ist viel zu gefährlich für ihn!
Wortlos packe ich seine Hand, zerre ihn mit gesenktem Kopf hinter mir her zum Portal der Basilika. Dort werfe ich einen hastigen Blick über die Schulter. Wo sind die Christusritter?
Der muslimische Wächter, der mit entrücktem Blick an seiner Wasserpfeife nuckelt und darauf lauert, dass er endlich das langwierige Ritual des Torschlusses vollziehen und nach Hause gehen kann, blickt verdutzt auf, als der Junge und ich während der allerheiligsten Liturgie die Grabeskirche verlassen.
Mit Elija an der Hand haste ich über den von Fackeln erleuchteten Hof, biege nach links in die Gasse, die zum Souk al-Attarin führt, bleibe unvermittelt stehen und luge um die Ecke.
»Sind die Tempelritter in der Kirche?«, wispert Elija und verhaspelt sich dabei vor Aufregung, sodass ich ihn kaum verstehen kann. Meine Hand hält er ganz fest.
Ich nicke, während ich den Hof beobachte, der still und verlassen vor mir liegt.
Die Ritter Christi haben mich doch nicht gesehen – so scheint es jedenfalls!
»Bist du wütend, weil ich in der Kirche war?«
»Und wie!« Ich lese ihm gehörig die Leviten. Er presst die Lippen aufeinander und guckt mich verdattert an. Tränen funkeln in seinen großen Kinderaugen.
»Aber ich kann doch nicht nach Hause gehen, wie du gesagt hast«, schluchzt er leise.
»Und wieso nicht?«
Ich kann nicht alles verstehen, was er mir sagen will, weil er furchtbar zu stottern beginnt. Nur so viel: Er sei ein Waisenkind, lebe seit Jahren auf der Straße und bettele für seinen Lebensunterhalt. Der alte Rabbi Eleazar gebe ihm zu essen, wenn er an seine Tür klopfe, aber bei ihm wolle er nicht schlafen …
Ich gebe nach – was soll ich denn sonst tun? Ihn schluchzend zurücklassen, damit Dom Tristão, der jeden Moment aus der Kirche kommen kann, ihn findet und als den kleinen Jungen wiedererkennt, der in der Via Dolorosa seine Hand in meine geschoben hat? Gott bewahre!
»Also gut – komm mit!«
Leise tappt er hinter mir her, als ich am Hospital der Johanniter vorbeihusche und an der Kreuzung zur Davidstraße stehen bleibe, um in unruhiger Erwartung um die Ecke zu spähen.
Seit dem späten Nachmittag bewachen Mamelucken die Davidstraße und die zum Tempelberg führende Kettenstraße, die das muslimische Viertel vom jüdischen trennt, und riegeln den Zugang zum Tempelberg und zur Zitadelle ab. Kleine Einheiten von zwei oder drei Bewaffneten patrouillieren durch die Straße, und ich frage mich, wen sie suchen.
Hat der Patriarch mich an Yared verraten?
Drei Mamelucken schlendern tuschelnd und lachend die von Fackeln hell erleuchtete Straße hinunter. Ich verstehe kein Wort, denn sie sprechen Tscherkessisch.
Die Davidstraße kann ich nicht überqueren, ohne entdeckt zu werden. Hastig nehme ich den blauen Schleier ab, der mich als Christin ausweist, lege mir einen gelben Schal über das Haar und werfe das lose Ende lässig über die Schulter, sodass mein Gesicht zur Hälfte verhüllt ist. Elija, der anscheinend begriffen hat, was ich vorhabe, wickelt sich die gelbe Stoffbahn seines Turbans um den Kopf und nimmt meine Hand.
Innerlich auf einen Kampf vorbereitet, zerre ich ihn auf die Davidstraße, und er stolpert dabei sehr glaubwürdig über einen Pflasterstein und schreit »Au!«.
Die Hände der Mamelucken ruhen auf dem Griff ihrer Schwerter, als sie sich zu uns umdrehen.
»Elija, du bist alt genug, um zu wissen, wann der Schabbat beginnt!«, fahre ich den Jungen an, der den Kopf einzieht. »Jetzt komm endlich! Dein Vater ist ziemlich wütend. Er und deine Brüder suchen dich schon überall. Weißt du denn nicht, wie gefährlich es für uns Juden ist, nachts durch die Stadt zu laufen?«
Mit einem »Salam!« will ich an den Mamelucken vorbei in die unbeleuchtete Straße huschen, die zur syrisch-orthodoxen Kirche des Evangelisten
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