Der Gotteswahn
Ausflüchten – beispielsweise »Das hängt davon ab, was Sie mit ›wahr‹ meinen« – nicht davon. Ebenso wenig verfängt die anthropologisch-relativistische Ausrede: ›»In‹ Chicago war ich nur nach Ihrer abendländisch-naturwissenschaftlichen Definition von ›in‹. Die Bongolesen haben eine ganz andere Vorstellung von ›in‹; danach ist man nur dann wirklich ›in‹ einem Ort, wenn man ein gesalbter Stammesältester ist und das Pulver vom getrockneten Hodensack einer Ziege schnupfen darf.« 129
Vielleicht sind Naturwissenschaftler fundamentalistisch, wenn es darum geht, die Bedeutung von »Wahrheit« auf irgendeine abstrakte Weise zu definieren. Aber das gilt auch für alle anderen Menschen. Wenn ich sage, die Evolution sei wahr, bin ich nicht fundamentalistischer, als wenn ich behaupte, dass Neuseeland auf der Südhalbkugel der Erde liegt. Wir glauben an die Evolution, weil die Belege dafür sprechen, und wir würden sie von heute auf morgen aufgeben, wenn sie durch neue Belege widerlegt würde. So etwas würde kein echter Fundamentalist sagen.
Fundamentalismus wird nur allzu leicht mit Leidenschaft verwechselt. Ich wirke sicher leidenschaftlich, wenn ich die Evolution gegen einen fundamentalistischen Kreationisten verteidige. Das liegt aber nicht daran, dass ich auch selbst Fundamentalist wäre, sondern es gibt für die Evolution einfach überwältigende Belege, und ich bin leidenschaftlich beunruhigt darüber, dass mein Gegenüber sie nicht erkennt – oder, was häufiger der Fall ist, sie nicht zur Kenntnis nehmen will, weil sie seinem heiligen Buch widersprechen. Noch stärker wird meine Leidenschaft, wenn ich darüber nachdenke, wie viel die armen Fundamentalisten und jene, die von ihnen beeinflusst werden, verpassen. Die Wahrheiten der Evolution und viele andere naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind so spannend, faszinierend und wunderschön; es ist wirklich tragisch, wenn einem Menschen all das entgeht. Natürlich wecken solche Gedanken meine Leidenschaft. Wie könnte es anders sein? Aber dass ich von der Evolution überzeugt bin, hat nichts mit Fundamentalismus oder religiösem Glauben zu tun, denn ich weiß ganz genau, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssten, damit ich meine Ansichten ändere, und ich würde es sofort tun, wenn die erforderlichen Belege auf dem Tisch lägen.
So etwas passiert durchaus. In einem früheren Buch habe ich berichtet, was ich als junger Student mit dem Doyen des Zoologischen Instituts in Oxford erlebte. Dieser hatte jahrelang geglaubt und gelehrt, den Golgi-Apparat (ein mikroskopisch kleines Gebilde im Inneren der Zellen) gebe es nicht: Er sei in Wirklichkeit ein Artefakt, eine Täuschung. In diesem Institut war es üblich, dass alle Mitarbeiter sich jeden Montagnachmittag den Forschungsbericht eines Gastwissenschaftlers anhörten. An einem solchen Montag war ein amerikanischer Zellbiologe zu Besuch, der ganz und gar überzeugende Belege für die tatsächliche Existenz des Golgi-Apparats vorlegte. Nachdem sein Vortrag zu Ende war, ging der alte Mann im Hörsaal nach vorn, schüttelte dem Amerikaner die Hand und sagte voller Leidenschaft: »Mein lieber Freund, ich möchte Ihnen danken. Ich hatte fünfzehn Jahre lang unrecht.« Wir klatschten uns die Hände wund. Kein Fundamentalist würde jemals so etwas sagen. In der Praxis würden auch nicht alle Naturwissenschaftler so reagieren. Aber alle Naturwissenschaftler legen zumindest Lippenbekenntnisse für dieses Ideal ab – anders als beispielsweise Politiker, die es vermutlich als Wankelmütigkeit verurteilen würden. Die Erinnerung an das gerade beschriebene Erlebnis lässt mir noch heute einen Kloß im Hals aufsteigen.
Als Naturwissenschaftler stehe ich dem Fundamentalismus feindselig gegenüber, weil er das Unternehmen Wissenschaft aktiv torpediert. Er lehrt uns, unsere Meinung nicht zu ändern und kein Interesse an spannenden Dingen zu haben, die man durchaus in Erfahrung bringen könnte. Er untergräbt die Wissenschaft und schwächt den Verstand. Das traurigste Beispiel, das ich kenne, ist der amerikanische Geologe Kurt Wise, der heute das Center for Origins Research am Bryan College in Dayton (Tennessee) leitet. Dabei ist es kein Zufall, dass das Bryan College nach William Jennings Bryan benannt ist, dem Ankläger des Biologielehrers John Scopes im Daytoner »Affenprozess« von 1925. Wise hätte sich seinen Jugendtraum erfüllen und Geologieprofessor an einer richtigen Universität werden können,
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