Der Gotteswahn
einer Hochschule mit dem Wahlspruch »Kritisch denken« anstelle des widersprüchlichen Mottos, das sich auf der Website des Bryan College findet: »Denke kritisch und biblisch.« Tatsächlich machte er an der University of Chicago ein echtes Examen in Geologie, dann folgten zwei höhere Abschlüsse an keiner geringeren Hochschule als Harvard, wo er bei keinem Geringeren als Stephen Jay Gould studierte. Er war ein hoch qualifizierter, wirklich vielversprechender junger Wissenschaftler und schien auf dem besten Weg zu sein, sich seinen Traum zu erfüllen: naturwissenschaftliche Lehre und Forschung an einer richtigen Universität.
Doch dann ereignete sich die Tragödie. Sie kam nicht von außen, sondern fand in seinem eigenen Geist statt – einem Geist, der durch fundamentalistisch-christliche Erziehung unterwandert und geschwächt war: Er war gezwungen zu glauben, dass die Erde – der Gegenstand seiner wissenschaftlichen Studien in Chicago und Harvard –
weniger als zehntausend Jahre alt sei. Mit seiner hohen Intelligenz erkannte er natürlich sofort, dass seine Wissenschaft und seine Religion sich auf direktem Kollisionskurs befanden, und der Konflikt in seinem Kopf bereitete ihm zunehmend ungute Gefühle. Eines Tages konnte er die Belastung nicht länger ertragen und suchte die Entscheidung buchstäblich mit der Schere: Er nahm eine Bibel, blätterte sie durch und schnitt alle Verse heraus, die beseitigt werden müssten, wenn das naturwissenschaftliche Weltbild richtig war. Am Ende dieses arbeitsintensiven und erbarmungslos ehrlichen Unterfangens war von seiner Bibel so wenig übrig,
dass ich es anstellen konnte, wie ich wollte: Obwohl alle Seitenränder der Heiligen Schrift noch unversehrt waren, konnte ich sie nicht mehr in die Hand nehmen, ohne dass sie auseinanderfiel. Ich musste mich zwischen Evolution und Heiliger Schrift entscheiden. Entweder hatte die Heilige Schrift recht und die Evolution war falsch, oder die Evolution war richtig, und ich musste die Bibel wegwerfen … In jener Nacht nahm ich das Wort Gottes an und verwarf alles, was ihm jemals widersprechen würde, einschließlich der Evolution. Damit warf ich tief bekümmert all meine wissenschaftlichen Träume und Hoffnungen ins Feuer.
Ich finde das entsetzlich traurig; aber während mich die Geschichte mit dem Golgi-Apparat zu Tränen der Bewunderung und Begeisterung rührte, ist die Geschichte von Kurt Wise einfach nur Mitleid erregend – Mitleid erregend und verachtenswert. Den Todesstoß für seine Laufbahn und sein Lebensglück hatte er sich selbst zugefügt. Dabei war dieser Schritt so unnötig, und er hätte ihm so leicht entgehen können. Er hätte nur die Bibel wegwerfen oder sie nach Art der Theologen symbolisch oder allegorisch interpretieren müssen. Stattdessen wählte er die fundamentalistische Methode: Er warf Wissenschaft, Belege und Vernunft weg, und damit auch all seine Träume und Hoffnungen.
In einem Punkt ist Kurt Wise vielleicht einzigartig unter den Fundamentalisten: Er war ehrlich – auf eine verheerende, schmerzliche, schockierende Weise. Man sollte ihm den Templeton-Preis verleihen; er wäre vielleicht der erste aufrichtige Preisträger. Wise holt Dinge an die Oberfläche, die gewöhnlich im Kopf von Fundamentalisten unterschwellig ablaufen, wenn sie mit wissenschaftlichen Belegen konfrontiert werden, die ihren Glaubensüberzeugungen widersprechen. Sein letzter Absatz lautet:
Zwar sprechen auch wissenschaftliche Gründe dafür, die Vorstellung von einer jungen Erde anzuerkennen, aber ich bin ein Junge-Erde-Kreationist, weil das meinem Verständnis der Heiligen Schrift entspricht. Ich habe meinen Professoren schon vor Jahren, als ich noch auf dem College war, gesagt: Wenn alle Belege des Universums gegen den Kreationismus sprächen, würde ich das sofort zugestehen, aber ich wäre dennoch Kreationist, weil es das ist, was Gottes Wort offenbar besagt. Hier muss ich stehen. 130
Es ist, als würde er die berühmten Worte zitieren, die Luther angeblich auf dem Reichstag zu Worms sprach (»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«), aber der arme Kurt Wise erinnert mich eher an die Gestalt des Winston Smith in Orwells 1984 : Er bemüht sich verzweifelt zu glauben, dass zwei plus zwei fünf ist, wenn der Große Bruder das sagt. Indes, Winston wurde gefoltert, während Wises Doppeldenk nicht durch körperliche Foltern erzwungen wird, sondern durch religiösen Glauben – ein Zwang, dem manche Menschen sich offenbar ebenso
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