Der Gotteswahn
den Amischen (einer nach ihrem Begründer Jakob Amann benannten mennonitischen Sekte) und deren Recht, »ihre eigenen« Kinder auf »ihre eigene« Weise großzuziehen. Ätzend ist seine Kritik an der Begeisterung unserer Gesellschaft für die Erhaltung der kulturellen Vielfalt. Nun gut, möchte man vielleicht sagen, für ein Kind der Amischen oder der Hasidim oder der Zigeuner ist es schon schwierig, wenn es von seinen Eltern so erzogen wird – aber zumindest hat es zur Folge, dass diese faszinierenden kulturellen Traditionen erhalten bleiben. Würde nicht unsere ganze Zivilisation verarmen, wenn es sie nicht mehr gäbe? Vielleicht ist es eine Schande, wenn einzelne geopfert werden müssen, damit eine solche Vielfalt bestehen bleibt. Aber so ist es nun einmal: Es ist der Preis, den wir als Gesellschaft zahlen. Nur – und ich fühle mich verpflichtet, daran zu erinnern: Nicht wir zahlen diesen Preis, sondern sie.
In den Blickpunkt der Öffentlichkeit geriet das Thema 1972, als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten den Präzedenzfall »Wisconsin gegen Yoder« zu entscheiden hatte. Es ging um das Recht der Eltern, ihre Kinder aus religiösen Gründen vom öffentlichen Schulwesen fernzuhalten. Die Amischen leben als geschlossene Gruppen in verschiedenen Teilen der USA; die meisten von ihnen sprechen Pennsylvania Dutch, einen altertümlichen deutschen Dialekt, und lehnen Elektrizität, Verbrennungsmotoren, Reißverschlüsse und andere Ausdrucksformen des modernen Lebens in unterschiedlich starkem Ausmaß ab. Tatsächlich hat eine solche Insel des Lebens, wie es im frühen 18. Jahrhundert war, als Schauspiel für den heutigen Betrachter einen eigenartigen Reiz. Ist sie als Bereicherung für die Vielfalt des menschlichen Lebens nicht erhaltenswert? Erhalten kann man sie indes nur, wenn man den Amischen gestattet, ihre eigenen Kinder auf ihre eigene Weise zu erziehen und sie vor dem verderblichen Einfluss der modernen Zeit zu schützen. Allerdings stellt sich auch die Frage: Sollten die Kinder in dieser Angelegenheit nicht selbst etwas zu sagen haben?
Angerufen wurde der Oberste Gerichtshof 1972, als einig Eltern in Wisconsin ihre Kinder nicht zur Highschool gehen ließen. Schon der Gedanke an Ausbildung oberhalb eines bestimmten Alters verstieß gegen die religiösen Werte der Amischen, und ganz besonders galt das für naturwissenschaftliche Ausbildung. Der Bundesstaat Wisconsin verklagte die Eltern und vertrat die Ansicht, den Kindern werde ihr Recht auf Bildung verweigert. Der Fall ging durch alle Instanzen und erreichte schließlich den Supreme Court, der mit 6:1 Stimmen zugunsten der Eltern entschied. 156 Die Mehrheitsmeinung des Gerichts, niedergeschrieben vom Leitenden Richter Warren Burger, enthielt folgende Passage: »Wie aus den Unterlagen hervorgeht, birgt eine Schulpflicht bis zum sechzehnten Lebensjahr für Kinder der Amischen die echte Gefahr, dass die Gemeinschaft und die religiöse Praxis der Amischen, wie sie heute existieren, untergraben werden; sie müssten entweder ihren Glauben aufgeben und sich in die Gesamtgesellschaft einfügen, oder sie wären gezwungen, in eine andere, tolerantere Region abzuwandern.«
Richter William O. Douglas vertrat in seinem Minderheitenvotum die Meinung, man hätte die Kinder selbst fragen sollen. Wollten diese wirklich, dass ihre Schulzeit verkürzt wurde? Wollten sie wirklich bei der Religion der Amischen verbleiben?
Nicholas Humphrey wäre sogar noch weiter gegangen. Angenommen, man hätte die Kinder gefragt, und sie hätten ihre Vorliebe für die Religion der Amischen bekundet: Können wir davon ausgehen, dass sie dies auch getan hätten, wenn man sie während ihrer Schulzeit über Alternativen informiert hätte? Wenn eine solche Entscheidung plausibel wäre, sollte es dann nicht auch junge Menschen aus der Außenwelt geben, die mit den Füßen abstimmen und sich freiwillig den Amischen anschließen würden? Richter Douglas ging in einer etwas anderen Richtung ebenfalls noch einen Schritt weiter: Er sah keinen besonderen Anlass, gerade den religiösen Ansichten der Eltern in der Entscheidung über die Frage, inwieweit sie ihren Kindern die Bildung verweigern dürften, eine Sonderstellung einzuräumen. Wenn die Religion ein Grund für Ausnahmen sei, könnte es dann nicht auch säkulare Überzeugungen geben, die ebenfalls ein solches Recht begründen?
Die Mehrheit des Obersten Gerichtshofes zog eine Parallele zu manchen positiven Werten der Mönchsorden,
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