Der Gotteswahn
weiterer Edelstein in der Krone des Multikulturalismus, wenn man so will.
Humphrey hält das für einen Skandal. Ich auch.
Aber wie kann jemand es wagen, so etwas auch nur zu äußern? Wie können sie es wagen, uns – die wir im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen – aufzufordern, wir sollten bei der Betrachtung eines Ritualmordes erhebende Gefühle haben – bei einem Mord, den eine Gruppe aufgeblasener, abergläubischer alter Ignoranten an einem wehrlosen Kind begeht? Wie können sie es wagen, uns aufzufordern, wir sollten eine unmoralische, an einem anderen Menschen begangene Tat gut finden?
Auch hier beschleichen den anständigen liberalen Leser möglicherweise ungute Gefühle. Natürlich, nach unseren Maßstäben ist es unmoralisch, und dumm ist es auch, aber wie steht es mit den Maßstäben der Inkas? Für sie war das Opfer doch sicher eine moralische Handlung und alles andere als dumm, denn es war doch durch alles, was ihnen heilig war, sanktioniert? Das kleine Mädchen war zweifellos eine treue Anhängerin der Religion, mit der sie erzogen worden war. Wer sind wir, dass wir ein Wort wie »Mord« gebrauchen und damit das Urteil über die Inkapriester nach unseren Maßstäben und nicht nach ihren eigenen fällen? Vielleicht war die Kleine ja verzückt und glücklich über ihr Schicksal. Vielleicht glaubte sie wirklich, sie werde sofort ins ewige Paradies eingehen, wo der Sonnengott sie mit seiner strahlenden Gesellschaft wärmte. Vielleicht – und das erscheint viel wahrscheinlicher – schrie sie aber auch vor Entsetzen.
Humphrey – und mir – geht es allerdings um etwas anderes: Ganz gleich, ob sie ein bereitwilliges Opfer war oder nicht, es bestehen stichhaltige Gründe für die Annahme, dass sie sich nicht bereitwillig geopfert hätte, wenn sie alle Tatsachen gekannt hätte. Nehmen wir beispielsweise an, sie hätte gewusst, dass die Sonne in Wirklichkeit eine Kugel aus Wasserstoff ist, der heißer ist als eine Million Grad und der sich durch Kernfusion in Helium verwandelt, und dass diese Kugel ursprünglich aus einer Gas-Scheibe entstanden ist, aus der auch das übrige Sonnensystem einschließlich der Erde hervorging … Vermutlich hätte sie dann die Sonne nicht als Gott angebetet, und damit hätte sich auch ihre Sichtweise in der Frage, ob sie diesen Gott durch ihr Opfer besänftigen solle, geändert.
Den Inkapriestern kann man ihre Ignoranz nicht vorwerfen, und man mag es für zu hart halten, sie als dumm und aufgeblasen zu bezeichnen. Aber man kann sie zu Recht beschuldigen, dass sie ihre eigenen Überzeugungen einem Kind aufzwangen, das zu jung war, um selbst zu entscheiden, ob es den Sonnengott anbeten wollte oder nicht. Wie Humphrey außerdem betont, kann man es den heutigen Dokumentarfilmmachern und uns, ihrem Publikum, vorwerfen, dass sie und wir in dem Tod des kleinen Mädchens etwas Schönes sehen – »etwas, das unsere gemeinsame Kultur bereichert«.
Die gleiche Tendenz, wunderliche religiöse Gewohnheiten einzelner ethnischer Gruppen zu glorifizieren und die in ihrem Namen begangenen Grausamkeiten zu rechtfertigen, zeigt sich immer und immer wieder. Sie wird zur Ursache quälender Konflikte im Geist netter liberaler Menschen, die einerseits Leiden und Grausamkeit nicht ertragen können, andererseits aber von Postmodernisten und Relativisten darauf trainiert wurden, andere Kulturen nicht weniger zu respektieren als ihre eigene. Die Verstümmelung der Geschlechtsorgane von Frauen (manchmal auch »Beschneidung« genannt) ist zweifellos äußerst schmerzhaft, sie macht sexuelle Lust bei den Opfern unmöglich (was vermutlich ihr eigentlicher Zweck ist), und die eine Hälfte des anständigen liberalen Geistes will sie abschaffen. Die andere Hälfte jedoch »respektiert« ethnische Kulturen und glaubt, wir sollten nicht eingreifen, wenn »sie« »ihre« Mädchen verstümmeln wollen. [54] – In Wirklichkeit sind »ihre« Mädchen natürlich eigenständige Persönlichkeiten, und deren Wünsche sollte man nicht übergehen. Aber die Antwort kann auch schwieriger sein: Was ist, wenn ein Mädchen selbst sagt, es wolle beschnitten werden? Würde das Mädchen sich als umfassend informierte Erwachsene im Rückblick nicht vielleicht wünschen, es wäre nie geschehen? Humphrey weist darauf hin, dass keine erwachsene Frau, die der Beschneidung als Kind aus irgendeinem Grund entgangen ist, die Operation später im Leben freiwillig auf sich nimmt.
Ausführlich beschäftigt sich Humphrey auch mit
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