Der Graben: Thriller (German Edition)
schon im Hotel eingecheckt und seine Koffer und sonstiges schweres Gepäck sicher auf dem Zimmer gelassen. Wenn er etwas dabeihatte, dann bestimmt nur leichtes Tagesgepäck. Saeko hielt es für ausgeschlossen, dass er viel Gepäck mit sich führte.
Der einzige andere mögliche Grund war, dass bereits jemand auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Saeko erinnerte sich an die Passage, in der ihr Vater beschrieb, wie er auf dem Weg nach Tiwanaku beinahe am Steuer eingeschlafen wäre. Auch hier gab es einen Satz, der nicht richtig passte. Er schrieb davon, dass Müdigkeit ansteckend sei. Saeko suchte den Satz heraus:
Es heißt ja, Müdigkeit sei ansteckend – ich muss eingenickt sein.
Der Satz ergab einen Sinn, wenn jemand neben ihm im Jeep gesessen hatte. Dieser Jemand war wahrscheinlich eingenickt, eingelullt vom Schaukeln des Jeeps, und so hatte ihr Vater versucht, seinen Geist zu beschäftigen, um selbst der Versuchung zu widerstehen.
Im Geiste ging Saeko den Rest des Textes durch und wandte ihre Theorie auf alle Beschreibungen an. Ihr Vater hatte geschrieben, dass er seine Tasche abgestellt und auf die Uhr auf dem Nachttisch zwischen den Betten gestellt hatte. Es waren zwei Betten da gewesen… Ihr Vater war in einem Doppelzimmer mit zwei Einzelbetten abgestiegen. Soweit sie wusste, hatte er immer ein Doppelzimmer gebucht, wenn er allein auf Reisen war. Ob er in einem normalen Zimmer oder in einer Suite wohnte, er wollte immer ein breites Doppelbett. Nur wenn er mit jemandem zusammen unterwegs war, buchte er ein Zimmer mit zwei Einzelbetten.
Außerdem hatte er erwähnt, dass er telefonisch einen Tisch für das Abendessen reserviert hatte. Wenn sie darüber nachdachte, war auch das völlig untypisch für ihn. Ihr Vater schlenderte normalerweise gern in der Umgebung seines Hotels herum und ging einfach in irgendein Lokal, das ihm gefiel. Die Mühe, einen Tisch zu reservieren, machte er sich nur, wenn er mit jemand Besonderem zusammen war, dem er nicht zumuten wollte, auf der Suche nach einem Restaurant lange herumzulaufen.
Nachdem sie siebzehn Jahre lang mit ihrem Vater um die Welt gereist war, glaubte Saeko, seine Gewohnheiten so gut zu kennen wie ihren eigenen Handrücken. Während ihr Vater zuerst den Eindruck erweckt hatte, er wäre allein gereist, war er in Wirklichkeit mit jemandem zusammen unterwegs gewesen. Vor der Statue von Viracocha hatte ihm jemand ein Taschentuch gereicht. Also gab es keinen Zweifel: Ihr Vater war mit einer Frau gereist. Der auffälligste Satz stand ganz am Ende des Textes:
Erst durch einen Hinweis wird mir klar…
Wieder ein Zeichen dafür, dass jemand bei ihm gewesen war. Mehr noch – diese Person musste ihrem Vater gesagt haben, dass die vogelartige Gestalt, die hinter Viracocha hervorschaute, eher das Abbild eines Menschen als eine abstrakte Darstellung war. Der Text enthielt keine Fotos, sodass Saeko lediglich versuchen konnte, sich die Szene vorzustellen. Sie dachte an die Beschreibung, das Bild eines gehörnten Reptilgesichts. Als Erstes kam ihr dazu ein Teufelsgesicht in den Sinn. Nachdem sie es einmal im Kopf hatte, wurde sie es kaum wieder los; es klebte hartnäckig fest. Saeko schauderte und stöhnte leise auf.
Sie atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen, das Bild mit dem Verstand zu verscheuchen. Es gab keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass es sich um ein Teufelsbild handelte; dies war lediglich ihren Assoziationen entsprungen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie wurde die Vorstellung nicht los, und Saeko kannte sich zu gut. Wenn sie das Bild jetzt nicht unter Kontrolle bekam, würde es sich ausbreiten, bis sie sich nicht mehr rühren konnte und unter seinem Gewicht eingeklemmt war. Sie wollte jedoch unter keinen Umständen noch einmal so etwas erleben wie in der Nacht im Krankenhaus von Ina. Ihre Gedanken überschlugen sich weiter, unkontrolliert. An jenem Abend, nach dem Erdbeben, war sie vom Haus der Fujimuras direkt ins Krankenhaus gebracht worden. Sie erinnerte sich noch an das Gefühl der Hilflosigkeit, das sie überkommen hatte, als sie feststellte, dass sie sich nicht rühren konnte, und daran, wie überzeugt sie davon gewesen war, dass dort jemand stand und sie aus dem Dunkel beobachtete. Das Bild hatte dann die Gestalt einer bestimmten Person angenommen…
Sie betrachtete den Text ihres Vaters auf dem Tisch vor sich und spürte ein Kribbeln im Rücken, wie eine Warnung, dass jemand im Raum war und direkt hinter ihr stand. Sie versuchte, sich
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