Der Graben: Thriller (German Edition)
ähneln, unterscheiden sie sich im Detail. In welche Richtung der Vogel schaut, kommt darauf an, auf welcher Seite von Viracocha er sich befindet, und die Flügel sind mehr oder weniger weit ausgebreitet.
Ein weiteres Relief eines Vogels scheint aus irgendeinem Grund hinterherzuhinken. Je länger ich diese Stelle betrachte, desto mehr scheint sie die Gesamtkomposition zu verderben. Der Vogel wirkt massiger als die anderen; er ist nur wenig kleiner als Viracocha selbst.
Die Flügel sehen aus wie zwei x-förmig angeordnete Bumerangs. Der Vogel hat einen Kopf, Arme und Beine, die eher wie die eines Menschen aussehen. Der Eindruck, dass es ein Vogel ist, stammt nur von den seltsamen Flügeln auf seinem Rücken. Hornartige Gebilde springen oberhalb seines glatten Reptiliengesichts vor.
Dabei kommt mir sofort Die gefiederte Schlange in den Sinn. In den südamerikanischen Legenden wird Viracocha jedoch auch als geflügelte Schlange dargestellt und ist positiv besetzt. Das Relief, das ich betrachte, wirkt allerdings ganz anders. Die rechte Hand ist auf Kinnhöhe angehoben, die linke hängt neben der Hüfte herab, die Handfläche zeigt nach außen. Von den Knien abwärts schwellen die Beine an, sodass sie im Vergleich zum übrigen Körper unverhältnismäßig plump sind. Das Wesen tritt mit dem linken Fuß vor, der aussieht, als trüge er eine Schwimmflosse.
Da die Darstellung viel dynamischer und realistischer ist als die anderen Bilder, zudem einen anderen Farbton hat und nicht mit ihrer Umgebung harmoniert, wirkt sie beinahe lebendig.
Erst durch einen Hinweis wird mir klar, dass diese gefiederte Schlange vermutlich keine abstrakte Darstellung ist, sondern eher das naturgetreue Abbild von Gesicht und Äußerem einer realen Person. Kein Wunder, dass sie so grob und zugleich so abstoßend wirkt.
Hier endete der Text.
Für einen Augenblick saß Saeko nur da, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie registrierte kaum, dass sie zu Ende gelesen hatte.
Bilder der Ruinen von Tiwanaku schwirrten ihr durch den Kopf. Sie versuchte sich zu konzentrieren, zu überlegen, warum ihr Vater dies geschrieben haben könnte. Sie fragte sich, ob es ein Tagebuch war, in dem er seine Erlebnisse bei den Besuchen der antiken Stätten festhalten wollte. Oder war es eher ein Versuch, die Geheimnisse um jene antiken Zivilisationen zu lüften, vor allem, wenn diese über Techniken und Kenntnisse verfügten, durch die sie ihrer Zeit voraus waren? Er hatte auch über den plötzlichen Niedergang solcher Kulturen geschrieben, darüber, wie viele einfach über Nacht verschwunden waren. Vielleicht war der Text ein Versuch, seine ersten Gedanken zum Thema Gruppenverschwinden abzustecken.
Der Text las sich wie ein Entwurf, als ob ihr Vater seine Erlebnisse und spontanen Gedanken in Tagebuchform hingeworfen hätte. Saeko kam zu dem Schluss, dass die Notizen höchstwahrscheinlich als Arbeitsgrundlage gedacht waren; später wollte er sich dann auf ein einzelnes Thema konzentrieren und das Manuskript entsprechend umarbeiten. Saeko wusste noch von früher, wie ihr Vater gearbeitet hatte. Gegen Ende des Textes hatte er begonnen, seine eigenen Ansichten über die Entstehung des Lebens und die Evolution darzustellen. Saeko fiel auf, dass die Postkarte, die sie erhalten hatte, die Schlüsselbegriffe und -konzepte aus dieser Textpartie zusammengefasst hatte.
In seiner Argumentation wich ihr Vater bewusst von der gängigen Vorstellung ab, dass die Evolution willkürlich und allein vom Zufall bestimmt war, und machte vehement deutlich, dass er sie für einen zielorientierten Prozess hielt. Saeko erinnerte sich daran, wie er einmal lang und breit den ungewöhnlichen Gedanken dargelegt hatte, das Universum (oder Gott) habe dem Leben die Fähigkeit zur Sprache gegeben, um sein Bedürfnis danach zu befriedigen, selbst in der Sprache der Zahlen beschrieben zu werden. Die Wechselbeziehung zwischen Leben und Materie werde durch Licht und Information vertieft und ermögliche so eine Weiterentwicklung des Universums.
Saeko erinnerte sich an ein Gespräch, das sie mit Toshiya über die Beziehung zwischen Schwarzen Löchern und Informationstheorie geführt hatte. Er hatte ihr eine Kopie einer kürzlich veröffentlichten wissenschaftlichen Publikation gegeben, in der es hieß, die Entropiekraft schwäche sich am Ereignishorizont eines verschwindenden Schwarzen Lochs ab. Infolgedessen könne sich Struktur bilden, die wiederum ausreichen könne, um die spezifischen
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