Der Graben: Thriller (German Edition)
Bedingungen zu schaffen, die für die Entstehung von Leben notwendig sind.
Saeko wollte den Argumenten ihres Vaters gern glauben, doch die unterschwellige Botschaft seines Textes machte ihr Angst. Er schien davor zu warnen, dass der Zusammenbruch der Beziehung, die er schilderte, zu einer beispiellosen Katastrophe führen konnte. Ihr Vater hatte im Universum ein Geflecht von Phänomenen gesehen, in dem alles in ständigem Werden und Vergehen begriffen war. Alles, das sich zu sehr gegen den Fluss des Fortschritts sträubte, fiel der natürlichen Auslese zum Opfer. Saeko konnte seiner Darstellung der Welt als instabiles, unsicheres Gebilde, das flüchtig und voller Hypothesen war, nur zustimmen – doch der Rest? Das Einzige, woran sie niemals zweifeln würde, war natürlich die Liebe ihres Vaters. Saeko merkte, dass sie sich ganz genau vorstellen konnte, wie ihr Vater diesen Text geschrieben hatte, damals, vor achtzehn Jahren. Sie konnte beinahe das sanfte Raunen seiner Stimme hören.
Gleichzeitig störte sie irgendetwas an dem Bild ihres Vaters, das durch diesen Text vermittelt wurde. Je mehr sie an den Mann dachte, den sie gekannt hatte, desto merkwürdiger kam ihr die Sache vor. Sie war sich sicher, dass er das Schriftstück verfasst hatte, doch hier und da passte etwas nicht zusammen.
Sie blätterte zur ersten Seite zurück und begann den Text zu überfliegen, um herauszufinden, woher dieser Eindruck kam. Beim erneuten Lesen erkannte sie, dass es die tagebuchähnlichen Passagen waren, die ihr so seltsam vorkamen; irgendwie passten sie nicht zu dem Bild, das sie von ihrem Vater hatte. Da war die Szene, in der er vor dem Bildnis von Viracocha stand und vom Eindruck eines Déjà-vu oder von nostalgischen Gefühlen sprach. Er berichtete sogar davon, er sei den Tränen nahe gewesen. Saeko konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Vater je geweint hatte – bis zu jenem Tag vor achtzehn Jahren, an dem er verschwunden war, hatte sie ihn nie auch nur eine Träne vergießen sehen. Hinzu kam noch die Art, wie er sich die Tränen abwischte – sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater je ein Taschentuch bei sich gehabt hatte. Das Bild war einfach schief. Saeko konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Vater dastand und sich mit einem Taschentuch die Tränen abwischte.
Sie fragte sich, ob er ihr diese Seite seiner Persönlichkeit einfach nie gezeigt hatte. Es war durchaus möglich, dass er einige seiner Angewohnheiten vor ihr verborgen hatte, da er vor seiner Tochter keine Schwäche zeigen wollte. Natürlich wusste Saeko auch, dass Leute oft erst nach dem Tod ihrer Eltern bestimmte Dinge über diese erfahren, zum Beispiel durch alte Freunde – daran war nichts Ungewöhnliches. Sie schob den Gedanken beiseite und überflog weiter den Text.
Dann hielt sie erneut inne. Da war es wieder, in der Szene, in der er den Anhalter mitnahm. Sie kam zu der Stelle, an der er sein Gespräch mit dem jungen Mann schilderte:
… während der gesamten Fahrt saß er nach vorn gebeugt da, den Kopf zwischen den Lehnen der Vordersitze, und erzählte aufgeregt von seinen eigenen Theorien über die antiken Kulturen.
Beim ersten Lesen war es ihr nicht aufgefallen, doch ihr Vater hatte ausdrücklich geschrieben, dass der Anhalter sich zwischen den Sitzen nach vorne gebeugt hatte. Irgendetwas an der Beschreibung kam ihr seltsam vor. Durch die Lektüre anderer Texte ihres Vaters wusste sie, dass seine Beschreibungen in der Regel klar und stimmig waren und man sich gut vorstellen konnte, was er schildern wollte. Warum also fiel ihr das bei dieser Szene so schwer?
Sie las noch einmal den Beginn der Textpassage. Ihr Vater hatte den Anhalter gesehen und ihn mitgenommen. Sie hätte selbstverständlich angenommen, dass dieser vorn auf dem Beifahrersitz gesessen hätte. Das war das Merkwürdige an der Beschreibung: Hätte der Anhalter auf dem Beifahrersitz gesessen, dann hätte er sich nicht vorbeugen müssen, um mit ihrem Vater zu sprechen. Dann wäre er ja gegen die Windschutzscheibe gestoßen. Er musste also woanders gesessen haben, nicht auf dem Beifahrersitz, sondern hinten. Damit war die Beschreibung sofort plausibel.
Doch warum hatte ihr Vater den Anhalter aufgefordert, hinten Platz zu nehmen? Das hatte Saeko bei ihm nie erlebt; sie hatte immer vorn neben ihm gesessen. Wenn sie hinten gesessen hatte, so hatte es dafür immer einen Grund gegeben.
Vielleicht hatte er einfach einen Haufen Gepäck auf dem Beifahrersitz?
Aber nein, er hatte ja
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