Der Graben: Thriller (German Edition)
das Universum seine physikalischen Konstanten und lässt neue Phänomene und Materie entstehen. Seine Wechselbeziehung mit der Sprache erlaubt dem Universum auch Weiterentwicklung und Wachstum. Ich bin beinahe versucht zu glauben, dass die Erde erst mit Kopernikus’ berühmter Veröffentlichung begonnen hat, sich um die Sonne zu drehen. Das Universum braucht seine mathematische Beschreibung und gab der DNA das Sprachpotenzial.
Wir schauen zu den unzähligen Sternen am Nachthimmel empor und träumen davon, dass es auf irgendeinem anderen Planeten Lebensformen gibt, die ganz anders sind als wir. Doch leider ist das einzige Leben, das in unserem Universum existiert, die DNA. Falls außer den Menschen noch intelligentes Leben existiert, so muss dies in einem anderen Universum sein, das außerhalb unserer Wahrnehmung liegt. Diese Wesen sind dann auf ihre Art Teil ihres eigenen Universums, einer ganz anderen Welt.
Nach dem Urknall begann unser Universum mit seiner unaufhaltsamen Ausdehnung. Falls es eine äußere Grenze hat, weicht diese mit jeder Sekunde weiter von uns zurück. Dieses Sich-Entfernen kommt mir manchmal vor wie eine Flucht vor den kognitiven Fähigkeiten der DNA, als wollte der Rand des Universums mit uns Fangen spielen und wir sollten ihn jagen.
Die Bedeutung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist in menschlichen Gesellschaften nicht anders. Gegenseitige Unterstützung und gemeinschaftliches Wachstum bringen den Fortschritt. Daher ist der Zusammenbruch des Gefüges eine Katastrophe. Wenn unsere Beschreibung des Universums fehlerhaft ist und ein Widerspruch sich ausbreitet, weiß unser Gegenüber vielleicht nicht, wie es darauf reagieren soll, und gerät in Panik. Womöglich gibt es sogar sein ewiges Fangenspiel auf und lässt uns fallen.
Es ist genau wie bei uns Menschen. Wenn eine Kluft zwischen zwei Eheleuten sich vertieft und jeder nur widersprüchliche Forderungen an den anderen stellt, scheitert die Beziehung und endet in der Scheidung. Es wird notwendig, die Beziehung aufzulösen oder anders ausgedrückt, alles zurück auf null zu stellen.
Angenommen, ein Mann verliert durch Unfall oder Krankheit das Augenlicht und muss fortan als Blinder leben. Wenn er den Verlust akzeptiert und sich entsprechend an seine Umwelt anpasst, kann das tägliche Leben mit nur wenigen Unannehmlichkeiten weitergehen. Beschließt er hingegen, den Verlust zu ignorieren und weiterzuleben wie bisher, gerät er sofort in Schwierigkeiten. Er stößt gegen Ecken von Tischen und fällt Treppen hinunter, weil er Stufen verfehlt. Wird er schließlich von einem Auto überfahren, kommt sein Leben zum Stillstand.
Selbst wenn die Lebensumstände sich verändern, gibt es keine Probleme, sofern Subjekt und Objekt geschickt aufeinander abgestimmt werden. Ist dies nicht der Fall, zerbricht die Beziehung, und das Leben stürzt in eine Krise.
Bei der Beziehung zwischen DNA und Kosmos ist das nicht anders.
Das Universum besteht keineswegs aus unverrückbar feststehenden Dingen. Alles darin fließt, es ist ein Werden und Vergehen und ist weder perfekt noch unwandelbar. Übrigens gibt es auch keine Garantie dafür, dass Physik und Mathematik korrekt sind; es ist lediglich so, dass sie bisher den prüfenden Blicken standgehalten haben. Alles ist Hypothese. Und deshalb dürfen wir keine Mühe scheuen, die Natur durch Sprache exakt und schön zu beschreiben, damit die Beziehung nicht zerbricht.
Ist die Inschrift auf dem Sonnentor eine solche Beschreibung?
Während ich dies denke, öffnet sich rein zufällig meine Tasche, die auf dem Tisch neben dem Textprozessor liegt, und ein paar Polaroidfotos rutschen heraus. Durch die Schwerkraft gleiten sie über mein Notizbuch, das schräg liegt. Ich halte es gerade, kurz bevor sie herunterfallen, lege die Fotos beiseite und schlage die Seite mit meinen Zeichnungen des Sonnentors auf. Als ich einige der Fotos mitten auf die Seite lege und mit den Zeichnungen vergleiche, wird mein Blick immer mehr von den Fotos angezogen.
In der Mitte des Tors sieht man eine Figur, die offenbar einen Sonnengott darstellt – sie hat die Arme erhoben, und von ihrem eckigen Gesicht gehen Strahlen aus. Es muss ein Bildnis von Viracocha sein.
Zu beiden Seiten befinden sich je drei Reihen von Quadraten mit Tierbildern. Sie sehen alle ähnlich aus, wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln. Eine vierte Reihe darunter zeigt geometrische Muster, die überwiegend aus geraden Linien bestehen. Auch wenn die Bilder sich
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