Der Graben: Thriller (German Edition)
reichlich Lebensmittel und Wasser an Bord, und das Rettungsboot war fest an Deck verzurrt.
Was um alles in der Welt war mit der Mannschaft geschehen? Diese Frage blieb bis zum heutigen Tage unbeantwortet.
Als Saeko die Geschichte als Kind gelesen hatte, waren ihr kalte Schauer über den Rücken gelaufen, und sie fiel ihr immer noch als Erstes ein, wenn sie vom Verschwinden einer ganzen Gruppe von Menschen hörte.
Doch mit fünfunddreißig Jahren nahm Saeko die Rätsel dieser Welt nicht mehr so unschuldig hin wie als Kind. Sie war sich sicher, dass es eine Erklärung gab, und entschlossen, diese durch eine rationale Analyse zu finden. Der Grund für das Verschwinden der Crew konnte auch sehr banal sein.
Vielleicht war zum Beispiel einer der Seeleute während des Frühstücks über Bord gefallen und die übrige Mannschaft war ins Wasser gesprungen, um ihn zu retten, einer nach dem anderen, bis keiner mehr übrig war. Vielleicht war es ja so einfach. Doch da von den Betroffenen niemand mehr da war, blieb es rätselhaft.
Saeko beschloss, bei der Untersuchung des Fujimura-Falls abseitigere Möglichkeiten außer Acht zu lassen und sich auf die einfachsten möglichen Szenarios zu konzentrieren. Sie griff zu einem Notizblock und zeichnete eine Tabelle, indem sie das Blatt in zwei Hauptkategorien unterteilte, vorsätzliche Gründe und erzwungene Gründe wie zum Beispiel eine Entführung. Unter die erste Kategorie fielen die Flucht vor Gläubigern und kollektiver Selbstmord. Es bestand auch die Möglichkeit, dass die Familie in einen Fluss oder See gefallen und ertrunken war.
Die zweite Kategorie war nur relevant, wenn es einen Grund für eine Entführung gab. Im Vergleich zu Fällen der ersten Kategorie musste ein solches Vorgehen ziemlich offensichtlich sein. Eine vierköpfige Familie zu entführen, ohne irgendwelche sichtbaren Spuren zu hinterlassen, erforderte sorgfältige Planung, und es mussten Profis am Werk gewesen sein.
Es scheint einfach nicht möglich zu sein , dachte Saeko.
Sie beschloss, die Entführung vorerst von ihrer Liste zu streichen. Damit blieb die Möglichkeit, dass die Familie entweder aus freien Stücken verschwunden war, oder weil ein Familienmitglied es so gewollt hatte. Vielleicht war ein Unfall passiert. Die ganze Familie konnte bei einem Autounfall beteiligt gewesen sein. Doch die anderen Ermittler hatten bereits festgestellt, dass das Auto der Fujimuras in der Garage stand, bis heute noch.
Aber wie sonst konnten alle vier gleichzeitig verschwinden? Zurück zum Wesentlichen. Das Wichtigste, das es zu bedenken galt, waren die Privatangelegenheiten der Fujimuras. Saeko würde jede einzelne persönliche Beziehung unter die Lupe nehmen. Viele Reporter hatten sich bereits damit befasst, doch Saeko war sich sicher, dass sie etwas übersehen hatten.
Da sie nun entschieden hatte, wie sie vorgehen wollte, besprach sie sich mit Kikuchi, dem für das Projekt zuständigen Redakteur. Zweimal reiste sie für jeweils eine Woche in die Gegend, in der die Fujimuras gewohnt hatten, und verfasste einen dreißigseitigen Artikel.
Doch selbst jetzt gelang es Saeko nicht, den Fall zu knacken. Sie wusste immer noch nicht, was mit den Fujimuras geschehen war. Falls sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen waren, gab es keinerlei Hinweise darauf, wer es begangen hatte.
Es kam Saeko mehr und mehr so vor, als hätte sich die Familie Fujimura einfach in Luft aufgelöst.
2
Saeko schaltete den Fernseher aus, krabbelte aus dem Bett und öffnete ihren Kalender, um nachzusehen, um wie viel Uhr sie den Termin mit dem Fernsehsender hatte. Ein Uhr mittags, in einem Konferenzraum des Senders. Da sie noch jede Menge Zeit hatte, frühstückte sie und duschte ausgiebig. Als sie in einen engen Rock schlüpfte, wie sie ihn schon länger nicht mehr getragen hatte, und den Reißverschluss hochzog, spürte sie angesichts des bevorstehenden Termins eine leichte Anspannung. Es war das erste Mal, dass sie in einer Fernsehsendung auftrat. Sie fand es reizvoll, etwas zu tun, das anstrengender war als alles, was sie je gemacht hatte. Sie wollte sich in einer Arbeit verlieren, die sie körperlich und geistig an den Rand der Erschöpfung brachte, ohne jedoch ihren Stolz oder ihre Selbstachtung zu opfern.
Wenn sie bewusst neue Erfahrungen suchte, konnte sie die Spannung in ihrem Leben auf einem gewissen Niveau halten, das ihr helfen würde, den Schmerz zu vergessen, das wusste sie. Gleichzeitig hatte sie ständig Angst zu versagen und
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