Der Graben: Thriller (German Edition)
1994 datiert; der Poststempel trug dasselbe Datum. Ihr Vater musste die Karte am Morgen des 19. geschrieben und gleich nach dem Auschecken aus seinem Hotel aufgegeben haben. Nachdem er das Hotel verlassen hatte, war er von El Alto, dem internationalen Flughafen von La Paz, nach Houston und am folgenden Tag weiter nach Narita geflogen. In Narita war er am 21. August angekommen, hatte in einem Hotel in der Nähe des Flughafens eingecheckt und Saeko angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er am nächsten Tag nach Shikoku reisen werde.
Sie hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
Die Postkarte war am 25. August angekommen, als Saeko bereits völlig verweifelt war, weil ihr Vater spurlos verschwunden zu sein schien. Obwohl sie wusste, dass die Karte eine Woche zuvor geschrieben worden war, glaubte Saeko nun fest daran, dass sie ihren Vater eines Tages wiedersehen würde. Die Karte gab ihr Kraft zum Weiterleben.
Wie geht es Dir, Saeko? Ich bin jetzt über Houston zurück nach Narita geflogen. Hierherzukommen hat mir zu einigen neuen Erkenntnissen verholfen.
Über das Leben, Augen, Schwarze Löcher, die Sprache…
Das Aussterben der Dinosaurier, das Aussterben der Neandertaler…
Leben und Tod. Gegensätzliche Konzepte. Im Sinne der Informationstheorie sind Leben und Tod das Gleiche. Die Wechselwirkung des Lichts. Die Wechselwirkung mit dem Gehirn und dem Bewusstsein erhält die Struktur des Kosmos aufrecht. Das Entscheidende sind die wechselseitigen Beziehungen zueinander. Wenn diese Beziehungen zusammenbrechen, »geht morgen die Sonne nicht mehr auf«.
La Paz, den 19. August 1994
Als die siebzehnjährige Saeko diese Postkarte erhielt, hatte sie keine Ahnung, worauf ihr Vater hinauswollte. Erst als sie auf dem College als Hauptfach Philosophie belegte, erkannte sie, dass »geht morgen die Sonne nicht mehr auf« sich auf Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus bezog. Saekos Vater setzte seine Anspielungen immer in Anführungszeichen, um Verwirrung zu vermeiden. Das vollständige Zitat von Wittgenstein lautete: »Dass die Sonne morgen aufgehen wird, ist eine Hypothese, und das heißt: wir wissen nicht, ob sie aufgehen wird.«
Internet und E-Mail waren noch nicht allgegenwärtig gewesen, als ihr Vater die Postkarte geschrieben hatte, und Saeko nahm an, dass sie sowohl als Nachricht für seine Tochter als auch als Gedächtnisstütze für ihn selbst gedacht gewesen war.
Doch was um alles in der Welt hatte er gemeint? Saeko war so mit seinem Verschwinden beschäftigt gewesen, dass sie sich nicht damit befasst hatte, den Sinn der Karte zu entschlüsseln. In dem Wort »Aussterben« lag etwas Unheilvolles und in dem Satzteil »geht morgen die Sonne nicht mehr auf« eine Absage an die Zukunft.
War es reiner Zufall, dass Saeko sich an die Postkarte er innerte, die ihr Vater ihr vor achtzehn Jahren geschickt hatte? Genau an dem Morgen, an dem sie einen Besprechungstermin bei einem Fernsehsender hatte, aufgrund eines Artikels, den sie über einen Vermisstenfall geschrieben hatte? Ihr Vater hatte ihr immer geraten, spontane Eingebungen ernst zu nehmen.
Damals war Saeko nicht auf die Idee gekommen, doch vielleicht gab es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden ihres Vaters und dem, was er ihr durch diese Postkarte hatte mitteilen wollen – was immer das auch war.
Sie beschloss, am Nachmittag nach dem Fernsehtermin in der Bibliothek vorbeizugehen, die auf ihrem Heimweg lag und in der sie als Kind viel Zeit mit Lernen verbracht hatte. Sie wollte versuchen, die Hinweise in der kryptischen Nachricht ihres Vaters zu entschlüsseln. Selbst wenn das zu nichts führte, würde es sie für eine Weile von ihrem Schmerz ablenken, am Leben zu sein.
3
Es war Saekos erste Planungsbesprechung bei einem Fernsehsender. Der Einzige, den sie dort kannte, war Hashiba, der Chefregisseur. Dem übrigen Team würde sie zum ersten Mal begegnen.
Sie stieg vor dem Eingang des Gebäudes aus dem Taxi und bat die Rezeptionistin, Hashiba Bescheid zu sagen. Die Angestellte sprach kurz in die Gegensprechanlage und sagte dann: »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Gehorsam setzte Saeko sich auf das freie Sofa auf der anderen Seite des Empfangsbereichs. Als sie sich umschaute, bemerkte sie, dass außer ihr eine Prominente wartete, die sie aus dem Fernsehen kannte. Saeko konnte sich nicht an den Namen der Schauspielerin erinnern, doch sie war Assistentin in einer Varietésendung, die freitagabends ausgestrahlt wurde. Weil sie sie nicht anstarren wollte, wandte
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