Der Graben: Thriller (German Edition)
Saeko den Blick ab – nur um einen weltberühmten Regisseur zu entdecken, der im Gespräch mit einem Angestellten an ihr vorbeiging.
Saeko wurde ein wenig nervös und hatte das dumpfe Gefühl, fehl am Platze zu sein. Ehrlich gesagt konnte sie nicht verstehen, warum der Sender so lange nach dem Vorfall eine neue Sendung über die verschwundene Familie aus Takato machen wollte. Soweit sie wusste, gab es keine neuen Erkenntnisse zu dem Fall.
Der Chefregisseur, ein Mann namens Hashiba, hatte sie ungefähr Mitte des vergangenen Monats kontaktiert. Er hatte Saekos Artikel über die vermisste Familie gelesen und wollte mit ihr sprechen.
»Worum geht es denn?«, fragte Saeko vorsichtig.
»Also, es ist so…« Hashiba erklärte, dass der Sender einen Bericht über die vermisste Familie machen wolle und man hoffe, Saeko könne dabei behilflich sein.
Obwohl Saeko sich mit Leib und Seele in die Untersuchung des Vorfalls von Takato gestürzt hatte, war es ihr nicht gelungen, neue Spuren aufzudecken. Die Reaktionen auf ihren Artikel waren überwiegend positiv gewesen. Der Redakteur hatte ihr mitgeteilt, dass ihre detaillierte Berichterstattung auch in Medienkreisen große Beachtung gefunden habe. Hashibas Anruf war der Beweis dafür.
»Warum ich?« Saeko war als Journalistin noch recht unerfahren und wusste nicht, was sie von dem Angebot halten sollte. Es konnte ihr beruflich neue Türen öffnen, es konnte ihr aber auch Scherereien bringen.
»Ihr Schreibstil und der Inhalt waren ausgezeichnet. Vor allem hat uns aber Ihre Recherche beeindruckt«, schmeichelte Hashiba. Dann legte er die Karten auf den Tisch. »Ehrlich gesagt sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es für uns schneller und einfacher wäre, uns Ihr Wissen zunutze zu machen, als selbst nach Takato zu fahren und eigene Ermittlungen durchzuführen. Wenn ich fragen darf, war das Ihre erste Reportage über einen Vermisstenfall?«
»Hm, ja«, erwiderte Saeko.
Das stimmte. Es war das erste Mal, dass sie über einen Vermisstenfall einen Artikel geschrieben hatte. Sie behielt für sich, dass sie früher eine ähnliche Untersuchung durchgeführt hatte und daher über die entsprechenden Fähigkeiten und Kontakte verfügte.
Die gründlichen Ermittlungen zum Verschwinden der Fujimuras und ihrer beiden Kinder, die Saeko während der zwei Besuche in Takato durchgeführt hatte, waren mehr oder weniger Standard gewesen. Sie hatte einen ortsansässigen Notar aufgesucht und die Meldebescheinigung, das Familienregister und die Familienchronik angefordert – die Grundlagen in einem Vermisstenfall. Sie hatte sich mit drei Generationen des Familienstammbaums vertraut gemacht, gründlich die finanziellen Verpflichtungen und Sicherheiten der Familie untersucht sowie nach möglichen außerehelichen Affären geforscht. Sie hatte die Schulen der Kinder aufgesucht und mit ihren Freunden gesprochen, um herauszufinden, ob die Kinder irgendwelche besonderen Probleme hatten, und sie war jeder möglichen Spur nachgegangen.
Alles in allem hatte Saeko über hundert Stunden in die Untersuchungen investiert. Der Regisseur würde länger dafür brauchen, da ihm ihre Erfahrung fehlte. So gesehen wäre es wesentlich wirtschaftlicher und ginge vor allem schneller, Saekos Informationen zu nutzen. Die Produktionszeit von Sendungen wie dieser war normalerweise knapp bemessen.
Ein Mann in den Dreißigern betrat die Lobby. Er hielt ein Handy ans Ohr und schaute sich um. Es war Hashiba, der Chefregisseur. Saeko erhob sich und ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Sobald Hashiba sie sah, beendete er das Telefonat und verbeugte sich lächelnd.
»Danke, dass Sie gewartet haben.«
Er war leger gekleidet, in schmal geschnittene Jeans und ein Jeanshemd, und Saeko bemerkte, dass er einen perfekt flachen Bauch hatte. Irgendwie wirkte er weniger aggressiv als bei ihrem ersten Treffen.
Sah er so gut aus? Verunsichert legte sie den Kopf schräg, während sie Hashiba folgte.
4
Im Konferenzraum befanden sich mit Saeko sieben Personen. Oki, der Produzent, und Hashiba saßen am Kopf des Tisches, links von ihnen die Regisseure Kagayama und Nakamura, rechts die Drehbuchautoren Shigeta und Satoyama. Saeko war die einzige Frau.
»Danke, dass Sie extra hergekommen sind«, sagte Oki zur Begrüßung. Dann kam er direkt zur Sache und erklärte das Ziel des Projekts. »Das Konzept ist folgendes: Wir wollen uns auf das pathologische Phänomen konzentrieren, dass in Japan jedes Jahr 100.000 Leute verschwinden, und wir
Weitere Kostenlose Bücher