Der Graben: Thriller (German Edition)
traute sich oft nicht, die Initiative zu ergreifen. Stattdessen ließ sie sich passiv mit dem Strom treiben und nahm wahllos alle Aufträge an, die sich ihr boten.
Obwohl ihr Vater ihr geraten hatte, genau das Gegenteil zu tun. Wenn Saeko Schwierigkeiten bei den Hausaufgaben hatte, nannte er ihr die Antworten nicht einfach so. Stattdessen streute er dezente Hinweise und brachte ihr bei, die Antworten selbst herauszufinden.
Als sie in der sechsten Klasse war, gab ihr Lehrer in Naturwissenschaften einmal eine schwere Frage als Hausaufgabe auf, zu der sie in keinem ihrer Bücher eine Antwort finden konnte. Um das Problem zu lösen, war ein räumliches Verständnis von Himmelskörpern notwendig, und der Lehrer hatte gar nicht erwartet, dass einer seiner Schüler dazu in der Lage wäre. Mit der Aufgabe hatte er die Schüler lediglich dazu bringen wollen, sich intensiv mit einem Thema zu beschäftigen, indem sie über eine schwierige Frage nachdachten.
Das hatte Saeko auch getan, so gut sie konnte, doch sie war weit entfernt von einer Antwort. Schließlich hatte sie ihren Vater um Rat gefragt. Dieser begann, eine Zeichnung anzufertigen und ihr zu erklären, wie die Planeten um die Sonne kreisen. Gestikulierend und auf sehr lustige Weise stellte er dar, wie sich daraus das Wechselspiel von Licht und Dunkelheit ergab, das Zu- und Abnehmen des Mondes, Mond- und Sonnenfinsternisse, das Verhältnis der Positionen von Venus und Mars zueinander, die Bündelung und Masse des Lichts, das von der Sonne kommt, und so weiter. Indem er Saeko zu begreifen half, in welcher Beziehung Sonne, Planeten und Mond zueinander standen und wie die Menschen dies von der Erdoberfläche aus wahrnahmen, gab er ihr einen entscheidenden Hinweis darauf, wie sie die schwierige Aufgabe lösen konnte.
»Schließ die Augen und stell es dir vor.«
Die behutsame Anleitung ihres Vaters wirkte wie ein Zauber. Saeko dachte lange und angestrengt nach und erkannte plötzlich, dass sie sich bildlich vorstellen konnte, wie die Planeten um die Sonne kreisten. Das Licht, das von der Sonne aus in alle Richtungen schien, und die sich daraus ergebenden Schatten ließen in ihrer Vorstellung Mond, Venus und Mars umso fantastischer funkeln. Sie begriff die Umlaufbahnen der Planeten und erfasste mühelos die Prinzipien hinter diesen Phänomenen. Dies war der Augenblick, in dem Saekos Begeisterung für die Naturwissenschaften erwachte und ihre Fähigkeit, die Augen zu schließen und das unglaubliche astronomische Schauspiel zu betrachten, das durch das Spiel des Lichts auf den Objekten des Sonnensystems entstand.
Als Saekos Vater während ihres zweiten Jahres auf der Highschool verschwand, verließ sie auch ihre Fähigkeit, sich die Bewegungen der Himmelskörper bildlich vorzustellen. Auch wenn es ihr gelang, leblose mineralische Objekte vor sich zu sehen, die sich in einem dunklen Vakuum bewegten, fehlte dem Bild jegliche Schönheit. Gleichzeitig verlor sie das Interesse an Physik, Mathematik, an der Fähigkeit, die Beziehungen zwischen Himmelskörpern zu begreifen – und den Mut, Neuland zu erkunden.
Saekos Gedanken wanderten zurück in die Gegenwart. Bei der Erinnerung an die Tipps ihres Vaters war ihr seine Postkarte eingefallen.
Wo habe ich sie nur hingetan? , fragte sie sich. Die plötzliche Erkenntnis, dass sie an etwas Wichtiges seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, ließ ihre Bewegungen rascher werden. In der gesamten Wohnung zog sie Schubladen auf und suchte nach der vermissten Karte.
Sie fand sie schließlich in der Akte mit den Unterlagen über das Verschwinden ihres Vaters. Die Ecken waren eingerissen und zerfleddert. Nachdem sie damals eingetroffen war, hatte Saeko sie ständig mit sich herumgeschleppt, sie oft berührt und voller Sehnsucht angestarrt. Wahrscheinlich hatte sie die Postkarte ein paar Jahre vor ihrer Hochzeit in die Akte gelegt. Nun waren über zehn Jahre vergangen, seit sie sie zum letzten Mal in der Hand gehalten hatte.
Es war eine Allerweltspostkarte, doch der Poststempel war ein wenig ungewöhnlich. Die Karte war in La Paz, der Hauptstadt von Bolivien, aufgegeben worden. Das Bild zeigte die Ruinen von Tiwanaku, die nicht weit von La Paz entfernt lagen. Die Rückseite der Karte war in der vertrauten Handschrift ihres Vaters beschrieben. Seine Briefe und Postkarten schrieb er immer im westlichen Stil von links nach rechts, da er in seiner Korrespondenz häufig Zahlen und englische Begriffe verwendete.
Die Postkarte war vom 19. August
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