Der Graben: Thriller (German Edition)
unteren Einlegeboden befanden sich ein paar recht kleine Schubladen voller Kleider. Eine Garderobe mit einer dürftigen Kollektion von Jacken und Mänteln stand an einer Seite des Wandschranks. In weiteren Schubfächern gegenüber dem Altar waren Dinge des täglichen Gebrauchs ordentlich aufgereiht. Deshalb hatte der Raum so groß gewirkt: Alles, durch das er bewohnt ausgesehen hätte, war in verschiedenen Schränken und Schubladen verborgen.
Ganz am Rand eines der Einlegeböden fand Saeko einige Fotoalben. Auf dem Buchrücken stand jeweils eine Jahreszahl. Saeko zog das neueste Album heraus und begann darin zu blättern. Das Album enthielt systematisch geordnete Familienfotos aus zwei Jahren, Schnappschüsse aus dem Alltag. Dazwischen verstreut waren einige Bilder, die offenbar von Familienausflügen und besonderen Ereignissen im Jahreslauf stammten und das Album abwechslungsreicher machten. Saeko wurde immer sentimentaler, je länger sie die Fotos durchblätterte; sie schienen von liebevoller, familiärer Zuneigung zu sprühen.
Die Mutter und der Vater, die Geschwister… Saeko stellte fest, dass sie immer wieder die Fotos der Mutter, Haruko, anschauen musste. Gleichzeitig drang das Geräusch von Helikoptern aus dem Fernseher im Wohnzimmer bis zu ihr, sodass ihr zwischendurch Bilder von dem Erdspalt in Kalifornien durch den Kopf schossen. Doch irgendetwas an den Fotos ließ sie nicht los.
Saeko war sich mit Kitazawa einig darin, dass Haruko die wahrscheinlichste Verbindung zwischen ihrem Vater und der Familie Fujimura war. Sie waren im August 1994 gemeinsam durch Bolivien gereist, kurz vor dem Verschwinden ihres Vaters. Es war nicht klar, ob sie sich verabredet hatten oder einander zufällig begegnet waren. Wie auch immer, sie hatten ein Verhältnis miteinander begonnen.
Saeko war überrascht, dass Haruko auf den Fotos anmutig und unschuldig wirkte und man ihr überhaupt nicht ansah, dass sie auch eine dunkle Seite hatte. Bei einem Bild von ihr hielt Saeko inne. Die Bildunterschrift datierte das Foto auf etwa ein Jahr vor dem Verschwinden der Familie; es war in der Lobby eines Hotels bei den heißen Quellen von Arima aufgenommen worden. Neben Haruko stand eine Frau namens Tomoko. Haruko saß auf einem Sofa, recht steif mit geradem Rücken und im Schoß gefalteten Händen. Die Förmlichkeit der Szene wirkte seltsam deplatziert, wenn dies tatsächlich ein Ausflug mit einer Freundin war. Haruko sah gesund aus und zeigte jene Contenance, die auf eine gute Erziehung hindeutete. Wenn das Foto ein Jahr vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden war, wäre sie damals vierundvierzig gewesen. Sie sah jedoch aus wie Anfang dreißig.
Saeko versuchte sich vorzustellen, wie Haruko mit achtundzwanzig ausgesehen haben musste, als sie ihrem Vater begegnet war. Sie war hübsch – Saeko hätte sie eher süß als schön genannt. Ihre Augen waren sehr ausdrucksvoll. Tief liegend, leicht nach innen zu ihrer Nase geneigt.
Die Bilder auf der nächsten Seite des Albums sahen alle neuer aus, eine Reihe von Familienporträts. Saeko überprüfte das Datum: der 22. November letzten Jahres, nur zwei Monate vor dem Verschwinden der Familie. Es waren insgesamt vier Fotos, die sich sehr ähnelten, als wären sie alle zur gleichen Zeit aufgenommen worden. Saeko erkannte das Wohnzimmer der Fujimuras, in dem sie eben gewesen war. Auf jedem Bild war die ganze Familie zu sehen. Es sah aus, als hätten sie ein Stativ aufgestellt und die Fotos mit dem Selbstauslöser gemacht.
Irgendetwas an dieser Fotoserie weckte ihr Interesse. In der Bildmitte befanden sich Haruko und ihr Mann, die Kinder nebeneinander hinter ihnen. Die Bildkomposition war ganz streng, typisch für ein Familienporträt. Das Lächeln aller wirkte steif, etwas gezwungen.
Während Saeko noch ein paar Seiten weiterblätterte, kam ihr ein Gedanke. Alle anderen Bilder im Album waren im Wesentlichen Schnappschüsse, die draußen aufgenommen worden waren, rund um Takato, im Urlaub, auf Schulausflügen und Sportveranstaltungen… Die formalen Porträts stachen hervor, da sie die einzigen Fotos waren, auf denen die gesamte Familie in ihrem Zuhause zu sehen war.
Saeko dachte an das gerahmte Foto auf dem Altar.
Wussten sie, dass ihnen etwas zustoßen würde?
Wenn die Fujimuras im Vorfeld etwas entdeckt hatten, wenn sie irgendwie herausgefunden hatten, dass sich bald alles verändern würde… Waren diese Fotos zur ewigen Erinnerung an sie gemacht worden, da sie darauf warteten, dass es
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